Isonomie oder Multilateralismus 2.0 – Skizze einer europäischen Sicherheitspolitik

Juni 2022
Am «Tag der Aussenpolitik» hat der deutsche EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer – per Video zugeschaltet - ein Referat über die Aussen- und Sicherheitspolitik Europas gehalten. Nachstehend der Wortlaut, leicht gekürzt und redigiert. Sie können den Vortrag auch hier anschauen.

«Sie haben mir ein grosses Thema gesetzt, «Aussenpolitik Europas», gerade mit Blick auf künftige Sicherheit, und diese Diskussion steht aktuell ganz unter dem Begriff der «Zeitenwende», den unser Kanzler Olaf Scholz geprägt hat. «Zeitenwende», das klingt sehr entschlossen, wie ein klärender Blitz und ein starker Donner auf einmal, und tatsächlich hat es ja einiges an Klarheit gegeben. Wir haben zum Beispiel jetzt die Klarheit, dass die Rhetorik, mit der aus Moskau jahrelang polemisiert worden war, wonach die EU und insbesondere die NATO Russlands Sicherheit gefährdeten und deswegen zurückgedrängt werden  müssten– dass die gar nichts mit dem realen Russland zu tun hat. Was tatsächlich gefährdet war, war Präsident Putins Traum von einer imperialen Wiederauferstehung Russlands, die sich eben nicht mit der russischen Erde begnügt, die heute hinter russischen Grenzen liegt, sondern im Zweifel den Anspruch erhebt, auch andere Länder unter den russischen Stiefel zu treten. Das ist inzwischen klar geworden durch Erklärungen des Präsidenten selbst. Wir haben auch Klarheit gewonnen, dass wir über viele Jahre fehlgeleitete, blauäugige Politik verfolgt hatten, daraufgesetzt hatten, dass wir Dialog ohne Abschreckung wirksam machen können. Dabei hatten wir ja eigentlich die Erfahrung, jedenfalls wir Deutschen aus der Zeit von Willy Brandt, dass Dialog und Abschreckung in der richtigen Balance sein müssen für die Auseinandersetzung mit einem autoritären, mit einem Unrechtsregime. Und trotzdem glaube ich, wir würden uns in eine Sackgasse begeben, wenn wir uns jetzt einbildeten, weil wir die Zeitenwende ausgerufen haben, seien wir schon auf dem richtigen Weg. Es gibt erkennbar Zögerlichkeiten und meiner Meinung nach haben wir auch noch nicht gründlich genug ins Auge gefasst, was wir insgesamt an Herausforderungen zu bestehen haben. Deswegen wäre es wahrscheinlich richtig davon zu reden, dass wir in einer «Wendezeit» leben, und dass die nicht erst mit dem Ausrufen der Zeitwende angefangen hat. Die fing schon vorher an, und wir haben es zu oft nicht sehen wollen, und die wird auch noch weiter gestaltet werden müssen. Und die Frage ist, was diese Wendezeit eigentlich ausmacht. Welche grundlegenden Veränderungen sind es, die uns herausfordern?

Drei fundamentale Verschiebungen

Tatsächlich überlagern sich drei fundamentale Verschiebungen gegenseitig. Zum einen erweist sich die Auffassung, die Hoffnung, die Erwartung, dass wir auf der Basis der Werte, die etwa in der UNO-Charta festgeschrieben sind, eine gemeinsame globale Welt bilden könnten, als fundamental angefochten. Von China aus, von Russland aus, zum Teil von andern Akteuren, gibt es einen massiven machtpolitischen Revisionismus, der die Ordnung, die wir graduell verändern und weiterentwickeln wollen, in ihren Kernelementen in Frage stellt. Zum zweiten gibt es eine Verschiebung zwischen verschiedenen Sphären. Die Geoökonomie, auf deren Wirkung wir uns lange verlassen haben - auch in der Erwartung, dass es auf ihrer Basis, etwa nach dem schönen deutschen Wort «Wandel durch Handel», so etwas wie eine Kongruenz, eine Konvergenz geben könnte –wird überlagert von divergierenden geopolitischen Ambitionen. Und drittens verschieben sich auch die Gewichte zwischen den verschiedenen Weltregionen. Europas Rolle geht zurück, wir leben in einem asiatischen Jahrhundert, das gleichzeitig ein Jahrhundert des Aufstiegs Afrikas sein wird. Und man spürt diese Verschiebung der Gewichte, weil nicht unbedingt jeder Konflikt in Europa in allen anderen Teilen der Welt heute noch mit genau derselben Priorität wahrgenommen und beantwortet wird. Ich war kürzlich bei einer Konferenz in Indien, wo vom indischen Aussenminister auf die europäische Frage, warum Indien nicht stärker mit uns gemeinsam gegen die russische Aggression in der Ukraine artikuliere, kühl geantwortet wurde: Naja, die Europäer haben sich ja auch nicht für unsere Grenzkonflikte mit China besonders engagiert. Das ist Eure Sache, das ist nicht unbedingt unsere.

Zweierlei Sichtweisen

Diese drei Verschiebungen stellen ein völlig anderes Spielfeld dar, und ich glaube, wir sind uns noch gar nicht voll bewusst, wie schnell sich diese Verschiebungen auch ganz praktisch auf unsere Handlungsfähigkeit auszuwirken drohen. Von China und von Washington aus gibt es zwei sehr unterschiedliche Versuche, die politischen Entwicklungen in ihrer Komplexität auf einen Grundbegriff zu bringen. Von Peking aus wird die aktuelle Situation als ein Kampf um Hegemonie interpretiert. Das sieht man etwa daran, dass jede einzelne europäische Kritik an China aus der Perspektive der kommunistischen Partei Chinas umgehend in eine Liebedienerei von Europäern gegenüber den uminterpretiert wird. Als etwas, was man im Auftrag der USA macht, oder weil irgendwelche Agentenführer in Washington an der Strippe gezogen haben. Die hegemoniale Idee Xi Jinpings ist eine sehr allumfassende Reichsidee, eine Ausdehnung des klassischen chinesischen Tianxua, der Gemeinschaft unter dem Himmel, auf die ganze Welt. Und spezifisch ist an dieser hegemonialen Interpretation auch, dass der zentrale Akteur, die kommunistische Partei, einen radikalen Anspruch erhebt – manche in Deutschland erinnern sich an das lächerliche Lied aus der stalinistischen Phase der DDR, in dem es hiess «Die Partei, die Partei, die hat immer recht» . In Peking hat man selbst das noch zu steigern gewusst, dort heisst es heute «der Parteikaiser» Xi Jinping - es ist faktisch eine Alleinherrschaft geworden - hat nicht nur immer recht, sondern hat auch alles zu bestimmen. Und wir erleben zunehmend, wie versucht wird, diese hegemonialen Ansprüche auch durch die Anwendung chinesischer Unterdrückungspraktiken im Ausland durchzusetzen.

Von Washington aus gibt es eine andere Interpretation. Von Washington aus, so hat es Präsident Biden formuliert, ist das ein Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus. Und entsprechend hat er einen Demokratiegipfel organisiert, und dazu eine ganze Menge Demokraten, auch manche zweifelhaften, eingeladen. Hegemonie als Leitidee auf der einen Seite, Ideologie als Leitkonflikt auf der andern Seite, das sind natürlich verschiedene Herangehensweisen, aber mir leuchtet auch die amerikanische Vorstellung nicht ein. Zum Beispiel kann ich den Verteidigungsminister von Singapur zitieren, der beim letzten Shangri-La-Dialogforum diese Idee auf der Bühne offen kritisiert und gesagt hat: Was denken Sie denn eigentlich wie die zehn ASEAN-Staaten sich da positionieren sollen, auf welcher Seite wollen Sie die denn einordnen, wenn das der Hauptwiderspruch der gegenwärtigen Zeit ist?

Der europäische Ansatz: Isonomie

Deswegen denke ich, es könnte vielleicht einen dritten Begriff geben, eine dritte Leitidee, und das könnte die europäische sein, und das nenne ich die Isonomie. In der griechischen Antike war die Isonomie das Gegenteil von Tyrannis. Isonomie heisst: Jeder Vollbürger hat gleiche Rechte in der Stadtrepublik. Isonomie als Grundidee für die internationalen Beziehungen in unserer so komplex gewordenen Welt würde heissen, dass alle Akteure, kleine und grosse, agency haben. Dass alle Akteure das Recht haben, ihre eigenen Perspektiven zu verfolgen, und nicht die einen, die Grossmächte sind, den Anspruch haben auf einen Hinterhof und einen Machtbezirk, und die andern sich halt schicken müssen, so wie es Thukydides im Peloponnesischen Krieg klassisch einem athenischen General gegenüber den unterworfenen Meliern sagen lässt. Der General sagt: Der Starke handelt, wie er will, der Schwache leidet, wie er muss. Das ist eigentlich die Normalität in der Geschichte der internationalen Beziehungen gewesen, und in den letzten siebzig Jahren hatten wir da quasi eine historische Auszeit. Soll die zu Ende sein? Ich glaube nicht. Ich glaube auch nicht, dass sie zu Ende sein muss. Und deswegen glaube ich, die Leitidee sollte sein, dass wir ein System von internationalen Beziehungen aktiv anstreben, in dem diese Rechtsgleichheit das Grundprinzip ist. Unsere amerikanischen Freunde nennen das oft the rules-based international order. Das gefällt nicht allen, weil natürlich nicht alle der geltenden Regeln für alle fair sind. Wenn ich mir etwa Handelsbeziehungen anschaue, da ist da manches zu wünschen übrig, und wenn ich mir anschaue, wie wenig internationale Politik etwa auf die dramatische Gefährdung pazifischer Inselstaaten durch den Klimawandel reagiert, dann ist einfach der Verweis auf die Regeln, die wir dahaben, nicht ausreichend. Aber die Grundidee, dass es regelbasiert sein soll und nicht nach dem Prinzip might makes right operiert werden soll, das ist, so glaube ich,  die richtige Idee, und für die steht dieser Begriff der Isonomie. Das wäre eine Art Multilateralismus 2.0, ein Multilateralismus, der nicht nur für die entwickelten Nationen, nicht nur für die reichen Länder, sondern für alle Länder weltweit eine faire Partnerschaft ermöglicht.

Europäische Sicherheit: Keiner allein

Was also soll die Europäische Union unter diesen Bedingungen tun, um die eigene Sicherheit zu stärken? Dazu drei Leitideen. Erstens Sicherheit für uns selbst, und dies zunehmend nur noch dann, wenn wir auch zur Sicherheit von Partnern aktiv beitragen. Zweitens sollten wir viel stärker die Frage der strategischen Solidarität, insbesondere mit Demokratien, aber auch mit anderen gleichgesinnten Ländern verfolgen, statt sich ausschliesslich auf die Idee der strategischen Autonomie der Europäischen Union zu konzentrieren. Und drittens ist Sicherheit natürlich multidimensional. Sicherheit ist nicht nur Militär, Sicherheit ist auch Klima, ist auch Handel. Im Gefolge des russischen Überfalls auf die Ukraine haben wir gelernt, dass Europa mehr in die eigene Sicherheit investieren muss. Das wird vor allem im Rahmen der NATO stattfinden müssen. Das wird vor allem aber auch stärker gemeinsam stattfinden müssen, und da kann die EU eine ziemlich wichtige Rolle spielen, die Gemeinsamkeit bei der Entwicklung, bei der Beschaffung ins Zentrum zu rücken und auf die Art und Weise die vielfache Zersplitterung, die uns hemmt, zu überwinden. Europa gibt wesentlich mehr Geld aus für Sicherheit, für Verteidigung, für die Armeen als die Russische Föderation, dreimal so viel vielleicht, aber erntet kein angemessenes Mass an Sicherheit. Das liegt auch an dieser Zersplitterung, die müssen wir überwinden, und wir müssen bereit sein, tatsächlich mehr Geld in die Hand zu nehmen. Wenn man das Geld allerdings ineffizient in die Hand nimmt, hat man allerdings halt auch nichts erreicht. Deswegen Rückkehr zu den Prinzipien von pooling and sharing oder von efficient security.

Die klimapolitische Dimension

Sicherheit hat eine klimapolitische Dimension, und hat auch die Dimension der Biodiversität, man kann das nicht voneinander trennen. Ob es darum geht, nicht so stark von fossilen Importen abhängig zu sein, ob es darum geht, dafür zu sorgen, dass unsere Industrien, wenn sie sich denn tatsächlich zur Nachhaltigkeit orientieren und entsprechend investieren, nicht durch Schmutzkonkurrenz von aussen nachteilig beeinflusst werden, wenn es darum geht, die Besorgnisse etwa der pazifischen Inselstaaten  ernst zu nehmen, dann ist in jedem dieser Fälle, und in vielen anderen auch, die Sicherheit als ökologische Sicherheit zu buchstabieren. Und deswegen bin ich auch froh, dass bei uns zu Hause in Berlin das Aussenministerium dafür eine neue Position geschaffen hat. Wir müssen das tatsächlich ins Zentrum rücken.

Technologiesicherheit

Sicherheit heisst auch Technologiesicherheit, und da spielt vor allem die digitale Technologie eine Rolle. Ich habe mir vor kurzem von einigen amerikanischen Experten erklären lassen, was Chinas Internet governance und digitale governance im schlimmsten Fall für Europa, die USA und die ganze Welt bedeuten kann. Da wird gerade an einer digitalen, an einer Daten-Asymmetrie gearbeitet, die uns, wenn wir nicht massiv dagegenhalten, auf die Verliererstrasse setzen wird. Und wir sind zersplittert zwischen verschiedenen Ländern, auch zwischen Regierungen und Privatwirtschaft, während in China das alles aus einer Hand kontrolliert wird, nämlich von der alles beherrschenden kommunistischen Partei. Wenn wir uns in eine technologische Abhängigkeit bringen lassen würden, wäre unsere Sicherheit auf Dauer nicht zu gewährleisten. In dem Zusammenhang brauchen wir auch eine aussenpolitische Seite der Industriepolitik, die wir machen. Das Wort friend-shoring spielt da aktuell eine grosse Rolle. Es ist strategisch richtig, Resilienz als Massstab zu nehmen und nicht einfach Effizienz. Nicht einfach die geringeren Kosten, sondern die externen sicherheitspolitischen Kosten einzubeziehen in die Kalkulation, und das heisst dann zum Beispiel wichtige Industrierohstoffe nicht vor allem von autoritären Lieferanten zu beziehen oder bei denen in den ersten drei oder vier Verarbeitungsstufen verarbeiten zu lassen. Das ist eine andere Orientierung der auswärtigen Industriepolitik als die, die wir bis jetzt verfolgt haben, aber das ist nötig.

Handelspolitik

Sicherheit heisst auch Handelspolitik neu begreifen. Handelspolitik ist von Brüssel aus in den vergangenen Jahrzehnten so gemacht worden, als ginge es nur um ökonomische Prioritäten. Aber in einer Zeit, in der Geopolitik die Geoökonomie übertrumpft, müssen auch geopolitische Realitäten bei der Handelspolitik eine Rolle spielen. Und da kann man nicht sagen, wir machen nur Freihandelsabkommen so wie wir es von der EU aus gemacht haben, mit Vietnam oder Singapur, die ein relativ hohes Niveau an Durchdringung der Ökonomien haben, sondern wir müssen auch bereit sein, eine flachere Architektur zu akzeptieren, um zum Beispiel mit Indien ins Geschäft zu kommen oder um ein regionales Freihandelsabkommen mit den ASEAN-Staaten insgesamt hinzukriegen. Das was in Asien mit RCEP gemacht wird oder was mit CPTTP gemacht wird, daraus müssen wir Schlussfolgerungen ziehen, auch das ist eine Frage unserer Sicherheit. Denn im Zweifel werden handelspolitische Fehler auch gegen uns zur Waffe gemacht.

Internationale Infrastrukturen

Sicherheit heisst auch, dass wir uns viel stärker als in der Vergangenheit engagieren im Geschäft der internationalen Entwicklung von Infrastrukturen. Chinas Belt and Road Initiative hat die Schwäche der Europäer und der USA in diesem Erfolg sehr erfolgreich ausgenützt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der indonesischen Finanzministerin vor einigen Jahren, die auf die Frage, was sie von Belt and Road hielte, antwortete: Geben Sie mir eine Alternative, dann sage ich Ihnen, was ich davon halte. An den Alternativen fangen wir gerade an zu arbeiten. In den USA heisst das blue dot network oder es heisst build back better, in Europa heisst es Global Gateway Initiative. Im Kern geht es darum, nicht einfach eine andere Art von Entwicklungspolitik zu machen, sondern Entwicklungspolitik und Transformationspolitik im Ökologischen und im Digitalen mit geopolitischen, mit geostrategischen Überlegungen zu kombinieren. Dafür gibt es ein hohes Interesse. Es gibt viele, die mit uns da eine Partnerschaft eingehen wollen, gerade in Asien, aber auch in Afrika.

Rote Linien bei den Menschenrechten

Und Sicherheitspolitik heisst auch, Menschenrechte ernst zu nehmen. Wir befinden uns in einem Systemwettbewerb, sagen wir von der Europäischen Union aus, mit China, mit anderen autoritären Regimes. Die autoritären Regimes breiten sich in der Welt aus, wir müssen die Stärke unserer eigenen Ordnung, die Stärke unserer eigenen Werte, unserer eigenen Überzeugungen auch in der Aussenpolitik zum Tragen bringen. Das heisst zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass Produkte aus Zwangsarbeit, aus moderner Sklavenarbeit nicht auf unsere Märkte vordringen, durch entsprechende Gesetze, so wie es in den USA durch das Uyghur forced labor prevention act gemacht worden ist. Das heisst zum Beispiel, bei Investitionen ethische rote Linien zu ziehen, so wie es der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie kürzlich öffentlich formuliert hat. Menschenrechte und nationale Sicherheit und ökonomische Perspektiven müssen zusammengebracht und zusammen gedacht werden. Alle diese unterschiedlichen Dimensionen von Sicherheit müssen wir als EU, und hoffentlich auch mit anderen europäischen Partnern, gemeinsam verfolgen. Nationale Alleingänge werden da nicht reichen. Es gibt den schönen Satz eines der Gründer der Europäischen Union, der mal gesagt hat: Es gibt in Europa nur zwei Sorten von Ländern – kleine Länder und Länder, die noch nicht wissen, dass sie klein sind. Deutschland hat lange geglaubt, wir hätten einen Löffel, der lang genug sei, um auf lange Sicht mit den Supermächten aus einer Schüssel zu essen. Das ist aber nicht der Fall. Entweder bringen wir eine europäische Integration zustande, also auch eine europäische Chinapolitik , eine europäische Russlandpolitik, oder wir werden nicht auf dem richtigen Niveau spielen.

Abschied vom «Westen»

Lassen Sie mich noch ein paar kurze Abschlussbemerkungen machen. Ich glaube, wir müssen auch in unseren Instrumenten in der Aussenpolitik flexibler sein. Multilateralismus ist eine wunderbare Idee. Aber wenn der Multilateralismus dazu führt, dass einzelne Akteure, die in eine ganz andere Richtung wollen, jeden Fortschritt blockieren können, dann kann man nicht einfach dabei stehen bleiben, nur den Multilateralismus zu besingen. Dann muss man plurilaterale, bilaterale oder minilaterale Formate des Operierens wählen. Zweitens kommt es auch darauf an, die Akteursvielfalt auf unserer Seite zu stärken. In der Chinapolitik spielt das Europäische Parlament eine wichtige Rolle, obwohl es formal zur europäischen Aussenpolitik gar nichts zu sagen hat. Medien können eine wichtige Rolle spielen, die Zivilgesellschaftsorganisationen spielen eine wichtige Rolle, die Wirtschaft ohnehin. Ich glaube, wir brauchen für eine sicherheitsorientierte Politik und die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, einen all of society approach. So würden es die Amis jedenfalls nennen – überlegen Sie sich, wie Sie die gängigste Übersetzung ins Schweizerdeutsche finden. Jedenfalls ist das ein wesentliches Element. Wenn wir nur auf der exekutiven Ebene spielen und dann am Ende noch Wirtschaft und Regierung auseinandertreiben lassen, dann springen wir zu kurz. Und schliesslich bin ich absolut dagegen, unsere europäische Sicherheitspolitik nach nostalgischen Begriffen zu orientieren. Ich benutze den Begriff des «Westens» nicht mehr. Erstens, weil er eine Interessenkongruenz vortäuscht, die bei allen Gemeinsamkeiten, die wir haben und bei aller fundamentalen Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses so nicht einfach stimmt, und zum zweiten, weil er zu kurz springt. Weil wir mehr brauchen als nur die Wiederherstellung eines guten transatlantischen Verhältnisses, da wir andere Partner anderswo in der Welt brauchen, Japan, Australien, Indien, auch viel mehr Partner im globalen Süden. Und schliesslich müssen wir auch bereit sein, mit anderen zu teilen, was wir uns für uns selbst erhoffen. Da komme ich zurück zu dem , was ich vorher schon gesagt habe. Sicherheitspolitik funktioniert vielleicht, wenn wir es schaffen, auf der Basis einer gemeinschaftlichen Vision davon, wie wir die Welt besser machen können, mit anderen zu kooperieren. Dabei hat Europa viele Möglichkeiten und viele Hebel, aber dabei hat Europa auch viel zu lernen, auch von anderen zu lernen. Europa ist nicht immer in der Rolle des Lehrers, sondern muss heute auch viel öfter bereit sein, in der Rolle des Schülers zu signalisieren: wir wollen Partnerschaft im Sinne dieses Begriffes der Isonomie, den ich vorher genannt habe.»