Lesetipp
Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU
von
Markus Mugglin
| Dezember 2014
«Wo liegt die Schweiz?». Die Titelfrage ist einfach gestellt. Was darauf folgt, ist eine breitangelegte und scharfsinnige Analyse über das Verhältnis Schweiz - EU, gewürzt mit spitzer Polemik.
Der ehemalige Staatssekretär Jakob Kellenberger rückt Dinge zurecht, die im «Swissness-Taumel» vergessen gehen oder verzerrt werden. Die angebliche Abhängigkeit der EU von der Schweiz. Die Schweiz ist für die EU zwar tatsächlich der drittwichtigste Exportmarkt. Das tönt nach viel. Doch die Wirklichkeit ist weniger beeindruckend. Wir kaufen nur jedes zehnte der EU-Exportgüter, verkaufen aber umgekehrt deutlich mehr als die Hälfte aller unserer Exportwaren an EU-Staaten. Die Schweiz findet ihr Heil nicht im fernen China, ist doch das Riesenreich wirtschaftlich nicht stärker als die nahegelegene Lombardei. Das benachbarte Bundesland Baden-Württemberg ist für uns ebenso wichtig wie die Wirtschaftsmacht USA. Oder unsere angebliche Blockade-Macht am Gotthard. Kellenberger empfiehlt jenen, die damit drohen möchten, «nicht die strategische Bedeutung der in der EU gelegenen Seehäfen für die Landesversorgung» zu vergessen. Der Autor hält es für ratsam, sich über die Grössenordnungen klar zu sein.
Doch das klare Denken und Deuten der Wirklichkeiten sei in der herrschenden Europa-Diskussion Mangelware, – beklagt der altgediente Diplomat Kellenberger, oft nüchtern-abwägend, nicht selten mit sarkastischem Unterton.
Schrumpfen, aufblasen und ruppig
«Mal schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was fast noch peinlicher ist» (S. 7), hält Kellenberger dem Politikbetrieb vor. Vor 25 Jahren herrschte die Schrumpf-, heute die Aufblasphase. Vor 25 Jahren herrschte die Angst vor, man würde in der EU untergehen, unsere Stimme würde gering geschätzt.
Ein zweites typisches Handlungsmuster der Schweiz sieht Kellenberger im «ruppigen Dreitakt». Die Schweiz erkläre ein Thema zuerst als «unverhandelbar». Drohen aber grosse wirtschaftliche Nachteile, wird «unverhandelbar» verblüffend rasch verhandelbar. Darauf folge erneut die rhetorische Wiederaufrüstung – bis zum nächsten Knick.
Liegt hier die Hoffnung für eine neue Europa-Politik? Vielleicht. Der Autor Kellenberger gibt keine direkte Antwort, aber macht Hinweise, die sich so deuten lassen. «In einem Konfrontationskurs mit Brüssel lassen sich durchaus ähnliche Erfahrungen machen mit der Bedeutung von Grössenordnungen wie in Washington», gibt der vielfach erprobte Verhandlungsführer zu verstehen.
Und tatsächlich: Die Auseinandersetzung über die Steuerprivilegien für Holding- und andere Gesellschaften weist Züge des «ruppigen Dreitakts» auf. Zuerst stellte sich die Schweiz taub. Darauf drohte die EU mit Sanktionen. Das bewog die Schweiz zum Einlenken. Dazu gesellt sich der Druck von Deutschland, Frankreich und anderen EU-Ländern, um an Schweizer Bankdaten heranzukommen. Kellenberger merkt dazu lapidar an, dass die Schweiz Zugeständnisse, die sie den USA gemacht hat, der EU nicht verweigern kann.
Es wird sich weisen, ob dieses Muster sich in der Auseinandersetzung um die Personenfreizügigkeit wiederholt. Diesbezüglich hält sich Kellenberger zurück. Klar ist für ihn allerdings, dass sich der Streit um die Europapolitik auf absehbare Zeit nicht um die Beitrittsfrage dreht – so sehr er es sich wünschte bzw. gewünscht hatte. Von der Option EWR hält Kellenberger nichts. Den «guten EWR» bezeichnet er als Trugbild. Das Projekt habe längst nicht erfüllt, was die Schweiz in den Verhandlungen gehofft hatte zu erreichen.
Jetzt geht es noch um zwei Formen des Bilateralismus – entweder die Rückkehr zum Bilateralismus von 1972 mit dem Freihandelsvertrag oder die Weiterentwicklung des Bilateralismus von 1992 mit den vielfältigen Zugängen zum grossen EU-Binnenmarkt.
Über Begriffe, Bilder und Erzählweisen
Kellenberger ist letztlich sehr skeptisch. «Ein durchschlagenderer Triumph der nationalkonservativen Strategen ist kaum vorstellbar», räumt er ein. Sie bestimmten über «Begriffe, Redensarten und Bilder …, die im Verhältnis zur EU zur Anwendung kommen» und übten einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung europäischer Wirklichkeit aus. Und noch schlimmer: «Die anderen Parteien diskutieren in den Begriffsgeleisen, die diese Kreise seit Jahrzehnten mit Hartnäckigkeit und Umsicht verlegen.»
Hier gälte es auszubrechen, mit Erzählweisen über die europäischen Wirklichkeiten entgegenzuhalten, andere Begriffe und Bilder einzubringen und zu vermitteln.
Jakob Kellenberger liefert dazu reichlich Material, Argumente und Begriffe. Es lohnt sich hier weiter zu denken und daraus neue Erzählweisen zu formulieren, die einfach sind und die Wirklichkeiten spiegeln. Statt Angst und Angstmache wären es Geschichten und Bilder einer selbstbewussten und gestaltungswilligen Schweiz. – Warum sollte das nicht möglich sein?
Jakob Kellenberger, Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU, Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014, 253 Seiten
Der ehemalige Staatssekretär Jakob Kellenberger rückt Dinge zurecht, die im «Swissness-Taumel» vergessen gehen oder verzerrt werden. Die angebliche Abhängigkeit der EU von der Schweiz. Die Schweiz ist für die EU zwar tatsächlich der drittwichtigste Exportmarkt. Das tönt nach viel. Doch die Wirklichkeit ist weniger beeindruckend. Wir kaufen nur jedes zehnte der EU-Exportgüter, verkaufen aber umgekehrt deutlich mehr als die Hälfte aller unserer Exportwaren an EU-Staaten. Die Schweiz findet ihr Heil nicht im fernen China, ist doch das Riesenreich wirtschaftlich nicht stärker als die nahegelegene Lombardei. Das benachbarte Bundesland Baden-Württemberg ist für uns ebenso wichtig wie die Wirtschaftsmacht USA. Oder unsere angebliche Blockade-Macht am Gotthard. Kellenberger empfiehlt jenen, die damit drohen möchten, «nicht die strategische Bedeutung der in der EU gelegenen Seehäfen für die Landesversorgung» zu vergessen. Der Autor hält es für ratsam, sich über die Grössenordnungen klar zu sein.
Doch das klare Denken und Deuten der Wirklichkeiten sei in der herrschenden Europa-Diskussion Mangelware, – beklagt der altgediente Diplomat Kellenberger, oft nüchtern-abwägend, nicht selten mit sarkastischem Unterton.
Schrumpfen, aufblasen und ruppig
«Mal schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was fast noch peinlicher ist» (S. 7), hält Kellenberger dem Politikbetrieb vor. Vor 25 Jahren herrschte die Schrumpf-, heute die Aufblasphase. Vor 25 Jahren herrschte die Angst vor, man würde in der EU untergehen, unsere Stimme würde gering geschätzt.
Ein zweites typisches Handlungsmuster der Schweiz sieht Kellenberger im «ruppigen Dreitakt». Die Schweiz erkläre ein Thema zuerst als «unverhandelbar». Drohen aber grosse wirtschaftliche Nachteile, wird «unverhandelbar» verblüffend rasch verhandelbar. Darauf folge erneut die rhetorische Wiederaufrüstung – bis zum nächsten Knick.
Liegt hier die Hoffnung für eine neue Europa-Politik? Vielleicht. Der Autor Kellenberger gibt keine direkte Antwort, aber macht Hinweise, die sich so deuten lassen. «In einem Konfrontationskurs mit Brüssel lassen sich durchaus ähnliche Erfahrungen machen mit der Bedeutung von Grössenordnungen wie in Washington», gibt der vielfach erprobte Verhandlungsführer zu verstehen.
Und tatsächlich: Die Auseinandersetzung über die Steuerprivilegien für Holding- und andere Gesellschaften weist Züge des «ruppigen Dreitakts» auf. Zuerst stellte sich die Schweiz taub. Darauf drohte die EU mit Sanktionen. Das bewog die Schweiz zum Einlenken. Dazu gesellt sich der Druck von Deutschland, Frankreich und anderen EU-Ländern, um an Schweizer Bankdaten heranzukommen. Kellenberger merkt dazu lapidar an, dass die Schweiz Zugeständnisse, die sie den USA gemacht hat, der EU nicht verweigern kann.
Es wird sich weisen, ob dieses Muster sich in der Auseinandersetzung um die Personenfreizügigkeit wiederholt. Diesbezüglich hält sich Kellenberger zurück. Klar ist für ihn allerdings, dass sich der Streit um die Europapolitik auf absehbare Zeit nicht um die Beitrittsfrage dreht – so sehr er es sich wünschte bzw. gewünscht hatte. Von der Option EWR hält Kellenberger nichts. Den «guten EWR» bezeichnet er als Trugbild. Das Projekt habe längst nicht erfüllt, was die Schweiz in den Verhandlungen gehofft hatte zu erreichen.
Jetzt geht es noch um zwei Formen des Bilateralismus – entweder die Rückkehr zum Bilateralismus von 1972 mit dem Freihandelsvertrag oder die Weiterentwicklung des Bilateralismus von 1992 mit den vielfältigen Zugängen zum grossen EU-Binnenmarkt.
Über Begriffe, Bilder und Erzählweisen
Kellenberger ist letztlich sehr skeptisch. «Ein durchschlagenderer Triumph der nationalkonservativen Strategen ist kaum vorstellbar», räumt er ein. Sie bestimmten über «Begriffe, Redensarten und Bilder …, die im Verhältnis zur EU zur Anwendung kommen» und übten einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung europäischer Wirklichkeit aus. Und noch schlimmer: «Die anderen Parteien diskutieren in den Begriffsgeleisen, die diese Kreise seit Jahrzehnten mit Hartnäckigkeit und Umsicht verlegen.»
Hier gälte es auszubrechen, mit Erzählweisen über die europäischen Wirklichkeiten entgegenzuhalten, andere Begriffe und Bilder einzubringen und zu vermitteln.
Jakob Kellenberger liefert dazu reichlich Material, Argumente und Begriffe. Es lohnt sich hier weiter zu denken und daraus neue Erzählweisen zu formulieren, die einfach sind und die Wirklichkeiten spiegeln. Statt Angst und Angstmache wären es Geschichten und Bilder einer selbstbewussten und gestaltungswilligen Schweiz. – Warum sollte das nicht möglich sein?
Jakob Kellenberger, Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU, Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014, 253 Seiten
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