Lesetipp
Neues Standardwerk zu Beziehungen Schweiz–EU
von
Daniel Brühlmeier
| Dezember 2020
Wer genau wissen will, wie die Schweiz in vielen Bereichen fast mitgliedähnlich in die EU integriert ist, systematisch europäisches Recht nachvollzieht und welche Bedeutung der institutionelle Rahmenvertrag hat, für den/die ist das neue Buch „Schweiz – Europäische Union“ von Europarechtler Matthias Oesch geradezu Pflichtlektüre.
Anlass für das Buch ist der gemeinhin „Institutionelles Abkommen“ (auch: „InstA“ und „Rahmenabkommen“) genannte Entwurf für ein Abkommen zwischen der EU und der Schweiz zur Erleichterung der bilateralen Beziehungen in den Bereichen des Binnenmarktes, an denen die Schweiz teilnimmt. Für die EU ist der Entwurf abschliessend; die Schweiz hingegen möchte in weiteren Verhandlungen „Klärungen“ zumindest in den Punkten staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie erreichen. Am 11. November 2020 hat der Bundesrat seine Position festgelegt (aber nicht öffentlich gemacht) und er ist zuversichtlich, mit der EU (de facto) Nachverhandlungen führen zu können, um den Entwurf schliesslich zu ratifizieren und referendumstauglich zu machen.
Institutionelles Abkommen und Grundlagen
Das InstA ist Gegenstand eines Mittelstücks des Buches von Matthias Oesch, Professor für Europarecht an der Universität Zürich (S. 62-75). Es soll die derzeitige institutionelle Ausgestaltung der Beziehungen weiterentwickeln. In der Tat stösst diese als „Schönwetterkonstruktion“ an ihre Grenzen, weil der Widerspruch zwischen dem souveränitätspolitisch begründeten Kardinalsprinzip der schweizerischen Integrationspolitik, wonach europäisches Recht nur statisch Eingang in das schweizerische Recht findet, einerseits, und andererseits der Notwendigkeit, neues EU-Recht zeitnah in den bilateralen Acquis zu übernehmen, und dem Bedürfnis, Streitfälle bei Bedarf einem unabhängigen Streitbeilegungsmechanismus zu überantworten, voll aufbricht. Aus Sicht des Rechtswissenschaftlers sind, anders als in der politischen Diskussion, in erster Linie die staatlichen Beihilfen, insbesondere die im beigefügten Entwurf für einen Beschluss des Gemischten Ausschusses für das Freihandelsabkommen gegebene Anleitung zur Auslegung klärungsbedürftig.
In einem kurzen ersten Teil geht Matthias Oesch auf die Grundlagen ein: zuerst die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU, d.h. die starke wirtschaftliche und funktionale Einbindung der Schweiz in Europa und in diverse Agenturen, Programme und Einrichtungen der EU. Dabei hat die Schweiz gewisse Mitwirkungsrechte, vor allem auf technischer Ebene. Insgesamt trage die Politik des Bilateralismus aber reaktive Züge und komme einer „Passivmitgliedschaft“ nahe. Dann wird die „Introvertierte Verfassungstradition“ angesprochen, die eklatante Europablindheit der Bundesverfassung. Sie komme weltoffen und völkerrechtsfreundlich daher, ignoriere aber die Beteiligung der Schweiz am europäischen Integrationsprozess.
Bestehende Abkommen und Autonomer Nachvollzug
Der zweite und längste Teil des Buches ist den bestehenden Bilateralen Abkommen gewidmet. Dessen Systematisierung ist gleichermassen originell wie schlüssig, thematisch gebündelt nach ihrem primären Regelungsinhalt: mit Warenhandel, Personenfreizügigkeit und Dienstleistungshandel (inkl. Land- und Luftverkehr) werden vorwiegend Marktzugangsfragen in einem klassischen Sinne geregelt. Das Wettbewerbsrecht dient der Remedur einer Vielzahl von staatlichen und privaten Praktiken, welche den Handel zwischen der EU und der Schweiz mutmasslich behindern.
Es folgt mit Justiz und Inneres ein umfangreiches Kapitel, das dem Schengen- und dem Dublin-Assoziierungsabkommen gewidmet ist, aber auch der Betrugsbekämpfung und dem Datenschutz. Dann haben wir, thematisch gruppiert, Forschung, Kultur, Bildung, und schliesslich die verschiedenen weiteren Bereiche unter Diversem: Statistik, Umwelt, Ruhegehälter, Zinsbesteuerung/Automatischer Informationsaustausch, Verteidigung, Satellitennavigation. Übers Ganze gesehen zeigt sich bei rund 120 Abkommen (davon rund 20 bilaterale Hauptabkommen), dass die Schweiz als assoziierter Drittstaat in zahlreichen Bereichen schon in mitgliedstaatsähnlicher Weise in den „unionalen“ Rechtsraum eingebunden ist. Eklatant ist auch die typologische Diversität, die unsystematisch unterschiedliche Vielfalt bei der Übernahme von EU-Recht oder dessen Durchführung. Auffällig viele (Aufdatierungen von) Abkommen sind – z.T. schon nach der Annahme der „Masseneinwanderungsinitiative“, aber vor allem seit dem Zeitspiel des Bundesrates mit dem InstA – „auf Eis gelegt“, suspendiert oder werden nicht mehr weiter verfolgt.
Wertvoll und originell ist der dritte Teil über den „Autonomen Nachvollzug“. Als Rechtsetzungsmaxime gilt er seit der Swisslex-Vorlage von 1993 den 27 Gesetzesrevisionen, welche im Wesentlichen eine Übernahme des Gemeinschaftsrechts bezweckten. Oesch zeigt schön auf, wie differenziert und informiert der Gesetzgeber, die Behörden und die Gerichte dabei vorgehen sollten. Es gibt auch Spezialfälle faktischer Alternativlosigkeit, wo Sachzwänge zur Übernahme europäischen Rechts führen, etwa im Datenschutz- oder im Finanzmarktrecht. Und 2010 läutete die helvetische Politik des autonomen Nachvollzugs mit der einseitigen Einführung des „Cassis de Dijon-Prinzips“ eine neue Epoche ein und hievte sich auf einen Integrationsgrad, welcher über tradierte Vorstellungen hinausreicht.
Der Elephant im Raum
Der Autor bewegt sich sicher, aber auch betont nüchtern und sachlich in seinem Thema, und dies in einer Breite und Tiefe, die weit über eine Einleitung und einen Ausblick in die Problematik des InstA hinausgeht. Zuweilen dringt ein (durchaus packender) Vorlesungs- und Seminarduktus durch. Das Buch will „den Boden legen für eine informierte Diskussion über den bilateralen Weg der Schweiz und die nächsten Integrationsschritte“; es leistet aber weit mehr als das und ist angetan, ein Standardwerk für die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union zu werden. Den eigenen Standortbezug kann man zuweilen zwischen den Zeilen lesen, oder dann explizit im Epilog: Das InstA ist eine solide Grundlage zur weiteren Verrechtlichung des bilateralen Acquis und stellt ein belastbares Fundament für weitere pragmatische Integrationsschritte der Schweiz dar. Doch der bilaterale Ansatz bleibt störungsanfällig und mit der Dynamisierung der Rechtsübernahme unter dem InstA wird sich das noch verstärken: Die Durchwinksreferenden und die «frustrierende Wahl zwischen Akklamation und destruktiver Opposition» (Oliver Diggelmann) werden zunehmen und die Substanz der demokratischen Rechte damit ausgehöhlt. So werden mittel- und längerfristig die weitergehende Integration und der Elephant im Raum (wieder) zum Thema: „Die aktive Mitgestaltung der Zukunft im Verbund mit gleichgesinnten Staaten liegt im ureigenen Interesse der Schweiz. Sie tut gut daran, sich sachlich und vorurteilslos der politischen Gretchenfrage des EU-Beitritts zu stellen.“
Matthias Oesch: Schweiz – Europäische Union. Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug, Zürich: EIZ Publishing, 2020, 232 S., Fr. 44.90 (open access: https://eizpublishing.ch/publikationen/schweiz-europaeische-union-grundlagen-bilaterale-abkommen-autonomer-nachvollzug/)
Anlass für das Buch ist der gemeinhin „Institutionelles Abkommen“ (auch: „InstA“ und „Rahmenabkommen“) genannte Entwurf für ein Abkommen zwischen der EU und der Schweiz zur Erleichterung der bilateralen Beziehungen in den Bereichen des Binnenmarktes, an denen die Schweiz teilnimmt. Für die EU ist der Entwurf abschliessend; die Schweiz hingegen möchte in weiteren Verhandlungen „Klärungen“ zumindest in den Punkten staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie erreichen. Am 11. November 2020 hat der Bundesrat seine Position festgelegt (aber nicht öffentlich gemacht) und er ist zuversichtlich, mit der EU (de facto) Nachverhandlungen führen zu können, um den Entwurf schliesslich zu ratifizieren und referendumstauglich zu machen.
Institutionelles Abkommen und Grundlagen
Das InstA ist Gegenstand eines Mittelstücks des Buches von Matthias Oesch, Professor für Europarecht an der Universität Zürich (S. 62-75). Es soll die derzeitige institutionelle Ausgestaltung der Beziehungen weiterentwickeln. In der Tat stösst diese als „Schönwetterkonstruktion“ an ihre Grenzen, weil der Widerspruch zwischen dem souveränitätspolitisch begründeten Kardinalsprinzip der schweizerischen Integrationspolitik, wonach europäisches Recht nur statisch Eingang in das schweizerische Recht findet, einerseits, und andererseits der Notwendigkeit, neues EU-Recht zeitnah in den bilateralen Acquis zu übernehmen, und dem Bedürfnis, Streitfälle bei Bedarf einem unabhängigen Streitbeilegungsmechanismus zu überantworten, voll aufbricht. Aus Sicht des Rechtswissenschaftlers sind, anders als in der politischen Diskussion, in erster Linie die staatlichen Beihilfen, insbesondere die im beigefügten Entwurf für einen Beschluss des Gemischten Ausschusses für das Freihandelsabkommen gegebene Anleitung zur Auslegung klärungsbedürftig.
In einem kurzen ersten Teil geht Matthias Oesch auf die Grundlagen ein: zuerst die Schweiz als «zugewandter Ort» der EU, d.h. die starke wirtschaftliche und funktionale Einbindung der Schweiz in Europa und in diverse Agenturen, Programme und Einrichtungen der EU. Dabei hat die Schweiz gewisse Mitwirkungsrechte, vor allem auf technischer Ebene. Insgesamt trage die Politik des Bilateralismus aber reaktive Züge und komme einer „Passivmitgliedschaft“ nahe. Dann wird die „Introvertierte Verfassungstradition“ angesprochen, die eklatante Europablindheit der Bundesverfassung. Sie komme weltoffen und völkerrechtsfreundlich daher, ignoriere aber die Beteiligung der Schweiz am europäischen Integrationsprozess.
Bestehende Abkommen und Autonomer Nachvollzug
Der zweite und längste Teil des Buches ist den bestehenden Bilateralen Abkommen gewidmet. Dessen Systematisierung ist gleichermassen originell wie schlüssig, thematisch gebündelt nach ihrem primären Regelungsinhalt: mit Warenhandel, Personenfreizügigkeit und Dienstleistungshandel (inkl. Land- und Luftverkehr) werden vorwiegend Marktzugangsfragen in einem klassischen Sinne geregelt. Das Wettbewerbsrecht dient der Remedur einer Vielzahl von staatlichen und privaten Praktiken, welche den Handel zwischen der EU und der Schweiz mutmasslich behindern.
Es folgt mit Justiz und Inneres ein umfangreiches Kapitel, das dem Schengen- und dem Dublin-Assoziierungsabkommen gewidmet ist, aber auch der Betrugsbekämpfung und dem Datenschutz. Dann haben wir, thematisch gruppiert, Forschung, Kultur, Bildung, und schliesslich die verschiedenen weiteren Bereiche unter Diversem: Statistik, Umwelt, Ruhegehälter, Zinsbesteuerung/Automatischer Informationsaustausch, Verteidigung, Satellitennavigation. Übers Ganze gesehen zeigt sich bei rund 120 Abkommen (davon rund 20 bilaterale Hauptabkommen), dass die Schweiz als assoziierter Drittstaat in zahlreichen Bereichen schon in mitgliedstaatsähnlicher Weise in den „unionalen“ Rechtsraum eingebunden ist. Eklatant ist auch die typologische Diversität, die unsystematisch unterschiedliche Vielfalt bei der Übernahme von EU-Recht oder dessen Durchführung. Auffällig viele (Aufdatierungen von) Abkommen sind – z.T. schon nach der Annahme der „Masseneinwanderungsinitiative“, aber vor allem seit dem Zeitspiel des Bundesrates mit dem InstA – „auf Eis gelegt“, suspendiert oder werden nicht mehr weiter verfolgt.
Wertvoll und originell ist der dritte Teil über den „Autonomen Nachvollzug“. Als Rechtsetzungsmaxime gilt er seit der Swisslex-Vorlage von 1993 den 27 Gesetzesrevisionen, welche im Wesentlichen eine Übernahme des Gemeinschaftsrechts bezweckten. Oesch zeigt schön auf, wie differenziert und informiert der Gesetzgeber, die Behörden und die Gerichte dabei vorgehen sollten. Es gibt auch Spezialfälle faktischer Alternativlosigkeit, wo Sachzwänge zur Übernahme europäischen Rechts führen, etwa im Datenschutz- oder im Finanzmarktrecht. Und 2010 läutete die helvetische Politik des autonomen Nachvollzugs mit der einseitigen Einführung des „Cassis de Dijon-Prinzips“ eine neue Epoche ein und hievte sich auf einen Integrationsgrad, welcher über tradierte Vorstellungen hinausreicht.
Der Elephant im Raum
Der Autor bewegt sich sicher, aber auch betont nüchtern und sachlich in seinem Thema, und dies in einer Breite und Tiefe, die weit über eine Einleitung und einen Ausblick in die Problematik des InstA hinausgeht. Zuweilen dringt ein (durchaus packender) Vorlesungs- und Seminarduktus durch. Das Buch will „den Boden legen für eine informierte Diskussion über den bilateralen Weg der Schweiz und die nächsten Integrationsschritte“; es leistet aber weit mehr als das und ist angetan, ein Standardwerk für die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union zu werden. Den eigenen Standortbezug kann man zuweilen zwischen den Zeilen lesen, oder dann explizit im Epilog: Das InstA ist eine solide Grundlage zur weiteren Verrechtlichung des bilateralen Acquis und stellt ein belastbares Fundament für weitere pragmatische Integrationsschritte der Schweiz dar. Doch der bilaterale Ansatz bleibt störungsanfällig und mit der Dynamisierung der Rechtsübernahme unter dem InstA wird sich das noch verstärken: Die Durchwinksreferenden und die «frustrierende Wahl zwischen Akklamation und destruktiver Opposition» (Oliver Diggelmann) werden zunehmen und die Substanz der demokratischen Rechte damit ausgehöhlt. So werden mittel- und längerfristig die weitergehende Integration und der Elephant im Raum (wieder) zum Thema: „Die aktive Mitgestaltung der Zukunft im Verbund mit gleichgesinnten Staaten liegt im ureigenen Interesse der Schweiz. Sie tut gut daran, sich sachlich und vorurteilslos der politischen Gretchenfrage des EU-Beitritts zu stellen.“
Matthias Oesch: Schweiz – Europäische Union. Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug, Zürich: EIZ Publishing, 2020, 232 S., Fr. 44.90 (open access: https://eizpublishing.ch/publikationen/schweiz-europaeische-union-grundlagen-bilaterale-abkommen-autonomer-nachvollzug/)
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