Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat / KW 30

von Johann Aeschlimann | July 2023
Syrien: Die humanitäre Hilfe nach Nordwest-Syrien fliesst spärlich. Die UNO und die Regierung in Damaskus können sich nicht über die Bedingungen einigen, unter denen der zentrale türkisch-syrische Grenzübergang Bab al-Hawa passierbar ist. Syrien hatte ihn nach dem russischen Veto gegen den von der UNO befohlenen «humanitären Zugang»  freiwillig geöffnet, dies aber an Bedingungen geknüpft. Der zuständige UNO-Koordinator erklärte dem Rat: «Grenzüberschreitende Hilfe ist für Millionen Menschen in Nordwest-Syrien eine Sache von Leben und Tod». 4,1 der 4,6 Millionen Einwohner sind auf Hilfe angewiesen, 80 Prozent davon Frauen und Kinder. Scharfe Preisanstiege haben im ganzen Land 12 Millionen Menschen in die «Nahrungsunsicherheit» getrieben, 2,9 Millionen droht Hunger. Politisch tut sich nichts. Der UNO-Sondergesandte sagte, die aussichtsreichen diplomatischen Anstrengungen der letzten Monate hätten nichts Zählbares erbracht. Mehrere Staaten forderten die Neuauflage einer Resolution zum «humanitären Zugang». Die Schweiz und Brasilien – federführend im Dossier – hielten in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass jede Lösung mit dem humanitären Völkerrecht «voll übereinstimmen» müsse. Die Schweiz präzisierte, dieses verpflichte nicht nur zur «Autorisierung», sondern auch zur «Erleichterung» humanitärer Transporte.

Westafrika/Sahel: Erneut  ist der Sicherheitsrat von laufenden Ereignissen contrepied erwischt worden – ähnlich wie im Frühjahr im Fall Sudan. Einen Tag, nachdem der Chef des vor allem mit der Unterstützung von Wahlen und «guter Regierungsführung» befassten  UNO-Büros für Westafrika und Sahel (UNOWAS) über alles in allem gelungene Wahlen – bei einigen «Herausforderungen» und «Strassensperren» -  berichtet hatte, wurde in Niger geputscht. Im riesigen UNOWAS-Beritt (15 Länder, 400 Millionen Menschen, 60 Prozent unter 25jährig) sind nun vier Staaten vom Militär regiert. Niger figurierte in der Ratsdebatte unter ferner liefen. Zwar berichtete UNOWAS, dass sich  «die Sicherheitslage im Zentral-Sahel weiterhin verschlechtert» habe, aber mehr als von Niger war in diesem Zusammenhang von Mali die Rede, wo die herrschenden Militärs die Blauhelmmission aus dem Land komplimentiert haben. Das Hauptaugenmerk der Debatte war auf die allgemein wachsende Unsicherheit und die zunehmende Unterversorgung des Gebiets gerichtet, die durch den Klimawandel verschärft wird. Die Schweiz erklärte, jede «Investition in Gewaltprävention und Schaffung von Frieden» müsse bei einem Mix aus politischen, sozioökonomischen und Sicherheitsursachen ansetzen. Dabei seien die Effekte der Klimaveränderung zu berücksichtigen. Sie wies auf ein schweizerisches Projekt in Burkina Faso hin, bei dem die Konflikte zwischen Hirten und Landwirten um knapper werdendes Land entschärft werden sollen.

Niger: Der Rat hat den Militärputsch in einer Presserklärung «scharf verurteilt». Die humanitäre Hilfe (4,3 Millionen Empfänger) läuft weiter, aber der Luftraum ist gesperrt.

Hunger: Auf Antrag der Schweiz und Brasiliens haben Vertreter des Welternährungsprogramms und der UNO-Landwirtschaftsorganisation der Rat in einem «interaktiven Dialog» über die Hungersnöte in Burkina Faso, Haiti und der Demokratischen Republik Kongo informiert. Dort sind insgesamt 33 Millionen Menschen von «akutem Hunger»  betroffen, davon über 5 Millionen in «Notsituationen». In Burkina Faso  sind laut UNO 22500 Menschen am Verhungern. In der Trockensaison könnte sich die Zahl im August beinahe verdoppeln. 900 000 Menschen leben in Orten, die von islamistischen bewaffneten Gruppen belagert werden.

Ukraine: Der verschärfte Krieg war zweimal Gegenstand von Ratssitzungen. Die erste, von Russland verlangt, sollte der «Verfolgung der orthodoxen Kirche» in der Ukraine befassen. Sie wurde zum Rohrkrepierer.  Erstens, weil zwei Tage zuvor die historische Innenstadt von Odessa und die Verklärungskathedrale unter russischen Beschuss genommen wurden, was rundum Empörung und Verurteilung hervorrief. Zweitens, weil die als Expertin aufgebotene Direktorin der UNO-«Allianz der Zivilisationen» beide Seiten der Medaille schilderte. Sie  verurteilte den «russischen Raketenangriff auf Odessa», rief die Haager Konvention über den Schutz kultureller Güter im Krieg in Erinnerung, zitierte eine UNESCO-Zahl, wonach seit Kriegsbeginn 116 «religiöse Stätten» beschädigt wurden, und erklärte «Russlands bewaffnete Attacke auf die Ukraine» zur Ursache der Misere. In der Ukraine hätten die «Fälle von Gewalt» und «Hassreden» gegen Angehörige der orthodoxen Kirche zugenommen, und die Behörden unternähmen nichts. In den von Russland besetzten Gebieten dagegen gebe es dokumentierte Fälle von willkürlicher Verhaftung, Folter, Deportation und «Verschwindenlassen» gegen die katholischen und  christlich-evangelischen Gemeinschaften. Weil kein Vertreter der Orthodoxen vor dem Rat auftreten durfte, blieb Russland aus Protest der zweiten Ratssitzung zur Ukraine fern. Dort standen die russischen Angriffe auf Häfen und Getreidelager und die Bedrohung von Handelsschiffen im Schwarzen Meer im Mittelpunkt. Ein UNO-Vertreter sagte, dies sei «lebensbedrohlich für Millionen, die erschwingliche Nahrung brauchen». Die Schweiz wies darauf hin, dass die bewusste Zerstörung von Kulturgütern ein Kriegsverbrechen ist, und sie sagte, die Zerstörung von Hafenanlagen an der Donaumündung nahe der rumänischen Grenze enthalte ein «gefährliches Eskalationspotential».

Zentralafrikanische Republik (CAR): Der Rat hat das Waffenembargo und das Mandat des dazugehörigen Ausschusses um ein Jahr verlängert, allerdings mit Abstrichen. Die Regierung in Bangui ist nicht mehr verpflichtet, der UNO Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe und Beratung für die «Sicherheitskräfte» des Landes zu melden. Die Meldepflicht an den Sanktionsausschuss liegt neu beim Lieferanten. CAR hatte eine vollständige Aufhebung des Embargos gefordert. Weil die Resolution dieser Forderung nicht nachkommt, enthielten sich Russland und China der Stimme.

Israel-Palästina: Die zunehmende Gewalt (massiver  israelischer Militäreinsatz gegen Flüchtlingslager in Jenin, Angriffe auf israelische Zivilisten, forcierter Siedlungsbau in den besetzten Gebieten) beherrschte die monatliche Nahost-Debatte. Palästina wies darauf hin, dass in den besetzten Gebieten mittlerweile 700 000 jüdische Siedler leben und die Besetzung tatsächlich als «Kolonisierung» zu verstehen sei. Israel beharrte auf «jüdischer Souveränität über Jerusalem» und warf der UNO-Flüchtlingshilfeorganisation UNRWA vor, mit der Unterstützung der Palästinenser in den Lagern «die Lage zu perpetuieren». Das Lager in Jenin sei ein «Hort des palästinensischen Terrorismus». Der israelische Militärschlag (12 Tote, davon 8 Mitglieder der Islamic Jihad a-Quds Brigades) sei mit «chirurgischer Präzision» geführt worden und habe keine zivilen Opfer gefordert. Mehrere Staaten sprachen ihre Unterstützung für UNRWA aus. Die Schweiz forderte ein Ende von «Provokationen wie jene des israelischen Sicherheitsminister» (er hatte den für drei Religionen bedeutsamen, quasi entpolitisierten Tempelberg besucht). Die Beschleunigung der «Kolonisation auf besetztem palästinensischem Territorium» sei «beunruhigend». Ost-Jerusalem werde von der Schweiz als besetztes Gebiet betrachtet. Sein Status, «insbesondere als Hauptstadt beider Staaten», müsse ausgehandelt werden.

Friedenserhaltung (peacekeeping): Kommandanten der UNO-Blauhelmmissionen haben in einem «interaktiven Dialog» dem Sicherheitsrat über ihre Erfahrungen berichtet. Thema war der «Schutz der Zivilbevölkerung (protection of civilians PoC), eine der Schweizer Prioritäten und in einigen, aber nicht allen, Blauhhelmmissionen Mandat. Die Schweiz und andere betrachten PoC als zentrale Aufgabe der UNO. Russland nicht: Das sei Aufgabe des jeweiligen Staats, sagte die russische Vertreterin. Sie kritisierte, dass die Überwachung der Menschenrechtslage und die Auflistung von sexualisierter Gewalt in den Konflikten nicht zu den UNO-Mandaten gehören sollten, da sie in der Bevölkerung lediglich unerfüllbare Erwartungen schürten. Die Vertreter der afrikanischen Staaten, welche grosse Kontingente an Truppen stellen ( im Gegensatz zu Staaten wie der Schweiz oder der USA) verwiesen auf zunehmende Instrumentalisierung der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten durch Terror-Taktiken oder gezielte Desinformation. Letzteres habe den Rückhalt der UNO-Präsenz in der Bevölkerung geschwächt, erklärten die Kommandanten der Blauhelme im Libanon und im Kongo. Der Kommandant von UNIFIL (Libanon) warnte vor einem neuen Krieg zwischen Israel und Hizbollah im Libanon. Der Kommandant von MONUSCO (Kongo) sagte, als peace enforcement operation (Friedenserzwingung, nicht Friedenserhaltung) operiere seine Truppe in «feindlicher Umgebung». Er forderte mehr Soldatinnen für die Truppe: Women civilians are more likely to talk with women peacekeepers (“Zivilistinnen reden eher mit Soldatinnen”). Mehrere Staaten forderten, die zur Verfügung gestellten Mittel mit den Mandaten in Einklang zu bringen. Viele unterstrichen die Bedeutung von Konflikt-Prävention in einem umfassenden (Modebegriff: holistic –“holistisch») , über das Militärische hinaus reichenden Sinn.  Die Schweiz schlug vor, «gemeinsame Standards» für UNO-Missionen auf-  und dort «PoC-Berater» einzustellen.

 
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