Lesetipp
Schweiz–EU: Durchwursteln bis zur Stunde Null
von Markus Mugglin
| Juli 2022
Vor 30 Jahren brachte eine Zeitenwende einen neuen Dreh in die Schweizer Europapolitik. Nach der neusten Zeitenwende weiss die Schweiz hingegen nicht, wie es weiter geht. Das verwirrliche Hin und Her dazwischen zeichnet der Journalist Luzi Bernet im Buch «Das Schweiz Dilemma» erhellend nach.
«30 Jahre Europapolitik» der Schweiz zeichnet der Journalist Luzi Bernet minutiös und trotzdem leicht lesbar nach. Er erzählt die bewegte Geschichte von Erfolgen und Misserfolgen, berichtet im ersten Hauptkapitel «Der EWR» über die «Überforderung» der Schweizer Politik im Gerangel um den Europäischen Wirtschaftsraum, beschreibt im zweiten Teil «Die Bilateralen» die «Wunderheilung», die der Schweiz knapp 20 «Jahre des stillen Glücks» bescherten und geht unter der Überschrift «Das Rahmenabkommen» der Frage nach, warum das als «Schweizer Idee» lancierte Vorhaben als Abkommen endete, das in der Schweiz niemand mehr wollte.
Der Autor, der in den 1990er Jahren als EU-Korrespondent die Politik-Mechanik in Brüssel aus der Nähe beobachtete und kennenlernte, später als Chefredaktor der Zürichsee-Zeitung, als Inland-Redaktor und bis 2021 als Chefredaktor der NZZ am Sonntag seinen Blick auf den Schweizer Politikbetrieb richtete, versucht sowohl die Überforderung als auch die Jahre des Glücks und schliesslich «das Drama um rote Linien» und den «Zerfall der Europa-Koalition» zu erklären.
Das Scheitern des EWR sieht Bernet als Überforderung – des Volkes und des Bundesrates, der uneinig in der Abstimmungskampagne im Lärm der Gegner unterging. Die Zeit sei für das Grossprojekt zu knapp gewesen.
Doch der Schock war schnell überwunden. Was jetzt, ein Jahr nach Verhandlungsabbruch über das Rahmenabkommen nicht gelingt, war damals gelungen. Es begannen «die Jahre des stillen Glücks» im Zeichen des Bilateralismus.
Mehrere Gründe für die «Jahre des stillen Glücks»
Mehrere Gründe hätten «die Wunderheilung» - so der Autor - möglich gemacht. Die Schweiz hätte sich nach der EWR-Überforderung Schritt für Schritt an die EU herangetastet. Hilfreich gewesen sei die Methodik Durchwursteln mit mehreren unterschiedlichen Dossiers, die einen Ausgleich der Interessen ermöglicht hätten. Es sei Realpolitik gewesen, unspektakulär, eine Absage an jede Klarheit und Systematik. Auch hätten alle Parteien und Interessengruppen etwas erhalten - einen privilegierten Zugang zum grossen Binnenmarkt die einen, den Schutz der Löhne die andern. Die «Geburt der Europakoalition» wurde möglich.
Die Bilateralen hätten auch als «Beruhigungspille» gewirkt. Die grosse Frage «sperriger Souveränitätsfragen» sei beim Schengen-Abkommen zurückgetreten dank den leicht verständlich zu machenden Vorteilen, wie Grenzen ohne unnötige Kontrollen zu passieren, Sicherheitskräften den Zugang zu einem kraftvollen Fahndungssystem zu gewähren und dem Tourismus das einheitliche Schengen-Visum zu offerieren. Der vielfältige Nutzen habe das «Kunststück Schengen» möglich gemacht.
Doch auf das fast 20 Jahre dauernde Einvernehmen folgte bekanntlich das Drama Rahmenabkommen. Bernet fragt im so überschriebenen Kapitel nach den Gründen des Scheiterns und führt mit «fehlender Wille, unklare Absicht», «falsche Deklaration», «Idiotie de clarté», «Überschätzung», «Faktor Zeit» und «Binnensicht und Organisation der Aussenpolitik» gleich sechs an. Ihr gemeinsamer Nenner lautet etwa: Die Schweiz wusste nicht, was sie will, sondern nur, was sie nicht will.
Zu starke Binnenoptik
Der Autor legt schonungslos die Schwächen der «starken Binnenoptik auf das aussenpolitische Geschehen» offen, die zum «Drama um das Rahmenabkommen» geführt hat. Gleichzeitig präsentiert er eine ganze Reihe von Lehren, welche die Schweiz aus dem Scheitern der Verhandlungen mit der EU ziehen könnte und sollte – aber noch immer nicht gewillt dazu scheint.
Ein Makel haftet dem Buch trotzdem an. Die «externen Faktoren», die - wie Bernet selber einräumt - «gewiss» eine wichtige Rolle spielten, finden wenig Beachtung. Zwar weiss der Autor auch, dass «it takes two to tango». Und doch erliegt auch er der Binnenoptik. Was «draussen» vor sich geht, wie sich die EU in den letzten Jahren verändert hat nach dem Beinahe-Crash des Euro, dem Zwist in der Migrationspolitik, dem Brexit, mit dem Streit über die Rechtsstaatlichkeit, den geopolitischen Machtverschiebungen und den daraus folgenden Bemühungen um strategische Autonomie wird nur beiläufig notiert. Ob sich diese Wendungen auch auf das Verhältnis Schweiz – EU auswirken, hätte eine genauere Beachtung verdient.
Luzi Bernet, Das Schweiz Dilemma, 30 Jahre Europapolitik, Verlag Hier und Jetzt, 244 Seiten, CHF 36.00
«30 Jahre Europapolitik» der Schweiz zeichnet der Journalist Luzi Bernet minutiös und trotzdem leicht lesbar nach. Er erzählt die bewegte Geschichte von Erfolgen und Misserfolgen, berichtet im ersten Hauptkapitel «Der EWR» über die «Überforderung» der Schweizer Politik im Gerangel um den Europäischen Wirtschaftsraum, beschreibt im zweiten Teil «Die Bilateralen» die «Wunderheilung», die der Schweiz knapp 20 «Jahre des stillen Glücks» bescherten und geht unter der Überschrift «Das Rahmenabkommen» der Frage nach, warum das als «Schweizer Idee» lancierte Vorhaben als Abkommen endete, das in der Schweiz niemand mehr wollte.
Der Autor, der in den 1990er Jahren als EU-Korrespondent die Politik-Mechanik in Brüssel aus der Nähe beobachtete und kennenlernte, später als Chefredaktor der Zürichsee-Zeitung, als Inland-Redaktor und bis 2021 als Chefredaktor der NZZ am Sonntag seinen Blick auf den Schweizer Politikbetrieb richtete, versucht sowohl die Überforderung als auch die Jahre des Glücks und schliesslich «das Drama um rote Linien» und den «Zerfall der Europa-Koalition» zu erklären.
Das Scheitern des EWR sieht Bernet als Überforderung – des Volkes und des Bundesrates, der uneinig in der Abstimmungskampagne im Lärm der Gegner unterging. Die Zeit sei für das Grossprojekt zu knapp gewesen.
Doch der Schock war schnell überwunden. Was jetzt, ein Jahr nach Verhandlungsabbruch über das Rahmenabkommen nicht gelingt, war damals gelungen. Es begannen «die Jahre des stillen Glücks» im Zeichen des Bilateralismus.
Mehrere Gründe für die «Jahre des stillen Glücks»
Mehrere Gründe hätten «die Wunderheilung» - so der Autor - möglich gemacht. Die Schweiz hätte sich nach der EWR-Überforderung Schritt für Schritt an die EU herangetastet. Hilfreich gewesen sei die Methodik Durchwursteln mit mehreren unterschiedlichen Dossiers, die einen Ausgleich der Interessen ermöglicht hätten. Es sei Realpolitik gewesen, unspektakulär, eine Absage an jede Klarheit und Systematik. Auch hätten alle Parteien und Interessengruppen etwas erhalten - einen privilegierten Zugang zum grossen Binnenmarkt die einen, den Schutz der Löhne die andern. Die «Geburt der Europakoalition» wurde möglich.
Die Bilateralen hätten auch als «Beruhigungspille» gewirkt. Die grosse Frage «sperriger Souveränitätsfragen» sei beim Schengen-Abkommen zurückgetreten dank den leicht verständlich zu machenden Vorteilen, wie Grenzen ohne unnötige Kontrollen zu passieren, Sicherheitskräften den Zugang zu einem kraftvollen Fahndungssystem zu gewähren und dem Tourismus das einheitliche Schengen-Visum zu offerieren. Der vielfältige Nutzen habe das «Kunststück Schengen» möglich gemacht.
Doch auf das fast 20 Jahre dauernde Einvernehmen folgte bekanntlich das Drama Rahmenabkommen. Bernet fragt im so überschriebenen Kapitel nach den Gründen des Scheiterns und führt mit «fehlender Wille, unklare Absicht», «falsche Deklaration», «Idiotie de clarté», «Überschätzung», «Faktor Zeit» und «Binnensicht und Organisation der Aussenpolitik» gleich sechs an. Ihr gemeinsamer Nenner lautet etwa: Die Schweiz wusste nicht, was sie will, sondern nur, was sie nicht will.
Zu starke Binnenoptik
Der Autor legt schonungslos die Schwächen der «starken Binnenoptik auf das aussenpolitische Geschehen» offen, die zum «Drama um das Rahmenabkommen» geführt hat. Gleichzeitig präsentiert er eine ganze Reihe von Lehren, welche die Schweiz aus dem Scheitern der Verhandlungen mit der EU ziehen könnte und sollte – aber noch immer nicht gewillt dazu scheint.
Ein Makel haftet dem Buch trotzdem an. Die «externen Faktoren», die - wie Bernet selber einräumt - «gewiss» eine wichtige Rolle spielten, finden wenig Beachtung. Zwar weiss der Autor auch, dass «it takes two to tango». Und doch erliegt auch er der Binnenoptik. Was «draussen» vor sich geht, wie sich die EU in den letzten Jahren verändert hat nach dem Beinahe-Crash des Euro, dem Zwist in der Migrationspolitik, dem Brexit, mit dem Streit über die Rechtsstaatlichkeit, den geopolitischen Machtverschiebungen und den daraus folgenden Bemühungen um strategische Autonomie wird nur beiläufig notiert. Ob sich diese Wendungen auch auf das Verhältnis Schweiz – EU auswirken, hätte eine genauere Beachtung verdient.
Luzi Bernet, Das Schweiz Dilemma, 30 Jahre Europapolitik, Verlag Hier und Jetzt, 244 Seiten, CHF 36.00
Kolumne
Der EWR ist von gestern, nicht für morgen
von alt Nationalrat Hans-Jürg Fehr | April 2023
Vor dreissig Jahren wäre der Beitritt der Schweiz zum Europäische Wirtschaftsraum EWR eine gute Lösung gewesen. Das Stimmvolk wollte nicht. In jüngster Zeit wird er von gewissen politischen Kreisen wieder propagiert. Aber heute wäre er eine schlechte Lösung.
Kolumne
Schulterschluss zwischen Bund und Kantonen in der Europapolitik
von Thomas Moser* | April 2023
Der bilaterale Weg zwischen der Schweiz und der EU ist ein Spiel, das von den Verteidigungsreihen dominiert wird. Seit 2007 werden keine wichtigen Verträge mehr abgeschlossen. Die Verhandlungen enden torlos. Als der Bundesrat am 29. März 2023 in Aussicht stellte, die Sondierungsgespräche mit der EU abzuschliessen und bis Ende Juni ein Verhandlungsmandat zu erarbeiten, verwies er auf die Kantone. Der Dialog mit ihnen habe es ermöglicht, für die Staatsbeihilfen und Zuwanderungsfragen konkrete Lösungsansätze zu definieren.