Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat / KW 42

von Johann Aeschlimann | Oktober 2023
Israel-Palästina: Der Rat ist nicht imstande, eine gemeinsame Position zum Krieg zwischen Israel und Hamas zu finden. Nach langen Verhandlungen scheiterten zwei Resolutionen. Eine russische verfehlte das notwendige Mehr, eine von Brasilien (Ratspräsident) ausgearbeitete wurde durch das Veto der USA abgelehnt. Für den russischen Antrag stimmten neben Russland noch China und die afrikanischen Ratsmitglieder, dagegen stimmten vier Mitglieder (USA, Grossbritannien, Frankreich, Japan), der Rest enthielt sich der Stimme, darunter die Schweiz. Für den brasilianischen Antrag stimmten 12 Mitglieder, darunter die Schweiz und die Vetomächte Frankreich und China. Russland und Grossbritannien enthielten sich. Die USA waren die einzige Nein-Stimme (das Veto bedeutet, dass das Geschäft binnen zehn Tagen in der Generalversammlung debattiert werden muss). Russlands Antrag forderte eine «sofortigen humanitären Waffenstillstand». Die Hamas, mit deren Raketenangriffen auf Zivilisten in Israel der Krieg am 7. Oktober begonnen hatte, wurde nicht erwähnt. Der brasilianische Antrag verurteilte Hamas als Urheberin von «terroristischen Taten» und verlangte lediglich «humanitäre Pausen» in Beschuss und Belagerung von Gaza (Israel wurde nicht namentlich genannt). Das Seilziehen um die Resolutionstexte zeigt, dass der Sicherheitsrat in seiner Kernfunktion als Hüter des Weltfriedens versagt, und in einer zweiten – als Schnittstelle der globalen politischen Auseinandersetzung – erodiert. Russland legte seinen Entwurf zur Abstimmung vor, ohne auf den Bedarf anderer Staaten nach Revision des Texts einzugehen. Die USA begründeten ihr Veto gegen den breiter konsultierten brasilianischen Entwurf damit, dass ihre «diplomatische Arbeit» zunächst «ihren Lauf nehmen» müsse (ein weiteres amerikanisches Argument war, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung im Text nicht explizit festgehalten war). Die anschliessende Debatte offenbarte zwei radikal entgegengesetzte Lesarten der Situation. Israel mokierte sich über die Forderungen nach «humanitärem Zugang». Sie seien «wichtige und noble Anliegen, aber keine Lösung zur Verhinderung des nächsten Massakers von Hamas». Der einzige Weg, dieses zu verhindern, sei die «komplette Vernichtung” der “barbarischen Hamas-Nazis”, wie die Entfernung auch der letzten Krebszelle aus einem Krebsgeschwür. Der Vertreter des State of Palestine drohte, ohne Einstellung des israelischen Bombardements in Gaza könne eine Ausweitung des Konflikts auf die ganze Region nicht vermieden werden. Zahlreiche arabische Staaten (Ausnahme: Saudi-Arabien) solidarisierten sich mit der palästinensischen Seite. Die Schweiz ging auf den Deutungsstreit nicht ein. Sie verurteilte in ihren Erklärungen die Akte der Hamas und pochte auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in allen Situationen. Das EDA teilt auf Anfrage mit, in den Verhandlungen habe die Schweiz sich «für die Verurteilung der Terrorakte der Hamas, den Schutz der Zivilbevölkerung und einen raschen humanitären Zugang sowie für die Verankerung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts» eingesetzt, «Ein Grossteil dieser Elemente» sei im brasilianischen Text enthalten. Dem russischen Resolutionsentwurf wurde nicht zugestimmt (Enthaltung), weil er keine explizite Erwähnung des humanitären Völkerrechts enthielt. Das sei für die Schweiz «schlicht nicht annehmbar», erklärte die Schweizer UNO-Botschafterin im Rat. «Selbst bewaffnete Konflikte haben Regeln». Anders als die übrigen Europäer unterstützte die Schweiz hingegen einen russischen Antrag, die brasilianische Resolution zu verschärfen und statt der «humanitären Pause» einen  «sofortigen humanitären Waffenstillstand» hineinzuschreiben (der Antrag unterlag). Die Entscheide über die schweizerische Positionierung in Bern wurden laut EDA  auf der Stufe von Aussenminister Cassis, aber nicht vom Gesamtbundesrat gefällt.

Haiti: Die Sanktionen (Waffenembargo, Reisebeschränkungen, Kontosperren) gegen Organisationen und Einzelpersonen in Haiti wurden um ein Jahr verlängert. Die Schweiz stimmte zu. In den Verhandlungen setzte sie sich mit anderen Staaten für eine Verbesserung der Einsprachemöglichkeiten und Prozeduren zur Entfernung von den schwarzen Listen (delisting) ein – seit Jahren ein Kernanliegen. Auf die Erweiterung der Befugnisse der UNO-Ombudsperson wird verzichtet, jedoch anerkennt der Rat in vager Form die Notwendigkeit gerechter Verfahren. Das sei ein «klares Mandat», auf das man sich bei der Weiterverfolgung des Anliegens  stützen werde, erklärte die Schweiz im Rat.

Somalia: Der Abzug der vom Sicherheitsrat mandatierten Truppe der Afrikanischen Union läuft weiter, aber für den Abzug der nächsten 3000 Mann ist eine «technische Pause» eingelegt. Die Al-Shabaab-Rebellen bleiben aktiv, der Beschuss der Hauptstadt Mogadischu nimmt zu. Mehrere Ratsmitglieder äusserten Sorge über die Sicherheitslage. Die Schweiz legte den Akzent auf die Verschärfung der inneren Konflikte durch den Klimawandel: «Die voneinander abhängigen Folgen der Konflikte und des Klimawandels haben im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen vertrieben, die Mehrheit davon Frauen und Kinder».

Grosse Seen: Im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRC) entzieht sich die «Bewegung des 23. März» (M23) den im «Luanda-Prozess» getroffenen Abmachungen zum Rückzug und agiert weiter. Andere bewaffnete Gruppen tragen zur andauernden miserablen Sicherheits- und Versorgungslage bei. Rwanda bleibt als Unterstützer im Hintergrund und sagt, im Kongo würden die «Ruandischsprachigen» verfolgt. Der UNO-Sondergesandte sorgt sich um «militärische Aufrüstung in beiden Ländern, das Fehlen eines hochrangigen Dialogs und die hartnäckigen Hassreden». Ende dieses Jahres sollen im Kongo Wahlen stattfinden, Anfang des nächsten der geordnete Abzug der UNO-Blauhelmtruppe (MONUSCO) aufgegleist sein. Die Schweiz unterstützt die diplomatischen Anstrengungen.

Libyen: Die Verheerungen des Sturms «Daniel» (Dammbrüche) dokumentieren Staatsversagen, aber die Fortschritte auf dem Weg zu allgemeinen Wahlen und einer nationalen Regierung sind zäh. Das berichtete der UNO-Sondergesandte dem Rat. Die Schweiz erklärte, der Klimawandel mache Stürme wie «Daniel» in Zukunft wahrscheinlicher und eine funktionierende Regierung nötiger.

Regionale Organisationen und UNO: In einer ganztätigen offenen Debatte haben über 60 Redner die grössere Zusammenarbeit zwischen der UNO und regionalen bei der Beilegung von Konflikten debattiert. Die europäischen Vertreter von Frankreich bis Armenien priesen die Rolle der Europäischen Union als Friedensbewahrerin auf dem Kontinent (Ausnahme: Russland). Die Schweiz dozierte, wo eine Regionalorganisation bei der Vermittlung in einem Konflikt die Führung übernehme, habe der Sicherheitsrat eine dreifache Rolle. Erstens als «normativer Wächter», der darauf schaue, dass regionale Abmachungen mit «universellen Normen» übereinstimmen. Zweitens als «Katalysator», der laufende Anstrengungen durch Besuche im Feld (field visits) und «interaktive Dialoge» verstärke. Und drittens in «vorbeugender Rolle», indem die politischen UNO-Missionen in den jeweiligen Situationen sich auf die Vermeidung oder Verhinderung von Konflikten konzentrierten.

Sexuelle Gewalt im Krieg: Die politisch korrekte UNO-Terminologie heisst “konfliktbezogene sexuelle Gewalt - Conflict-Related Sexual Violence, definiert als “Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, erzwungene Prostitution, Zwangsheirat und jede andere Form von sexueller Gewalt». Wir sagen “sexuelle Gewalt im Krieg”, weil so eher verständlich wird, was gemeint ist – vornehmlich die Anwendung von Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe. Albanien organisierte zusammen mit den USA und Grossbritannien eine informelle Debatte zum Thema. Gegenstand war ein jährlicher Bericht des Generalsekretärs.  Die Schweiz sagte, die «Warnzeichen» müssten ernst genommen und die UNO-Mandate entsprechend ausgestattet werden. 90 Prozent aller Vorfälle geschähen mit Waffengewalt, weshalb die Proliferation von Schusswaffen besser zu kontrollieren sei. Sie verwies darauf, dass sexuelle Gewalt im Zusammenhang mit der Bekämpfung und Ahndung von Terrorismus ausgeklammert ist.

Schweizer Erklärungen

Korrigendum: Das Resultat der Abstimmung über den brasilianischen Gaza-Antrag wurde falsch wiedergegeben. Die Enthaltungen kamen nicht von Russland und China, sondern von Russland und Grossbritannien. China hat der Resolution zugestimmt.

 
Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat KW 16/2024

von jaeschlimann | April 2024
Themen der Woche: Palästina, Israel-Gaza-Iran, UNRWA, Jemen, Ukraine, Libyen, Westsahara, Sudan, OSZE, Jugend