Kolumne

Soll die Schweiz dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten?

von Martin Dahinden* | März 2023
Die Schweiz hat mitverhandelt, aber nicht unterzeichnet. Das Parlament ist dafür, der Bundesrat steht vor dem Entscheid, dem UNO-Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) beizutreten oder abseits zu stehen.

2021 ist der UNO-Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) in Kraft getreten. Er verbietet Atomwaffen umfassend, so wie bereits biologische und chemische Waffen verboten sind. Inzwischen unterzeichneten 92 Staaten den Vertrag. Die Schweiz nahm an den Verhandlungen teil, hat aber den Vertrag bis heute nicht unterzeichnet, obwohl sie seit langem ein umfassendes Verbot aller Massenvernichtungswaffen unterstützt. Unter der schweizerischen Bevölkerung ist der Rückhalt für den TPNW gross. Nationalrat und Ständerat haben sich für einen Beitritt ausgesprochen. Der Bundesrat ist zurzeit daran, eine Neubeurteilung vorzunehmen und will nächstens entscheiden.

Völkerrecht und Sicherheitspolitik

Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, sich für ein Atomwaffenverbot einzusetzen. Aus humanitärer Sicht gehören Atomwaffen zu den Waffen, die grundlegende Normen des Kriegsvölkerrechts verletzen. Wegen ihrer gewaltigen Wirkung lassen sie es praktisch nicht zu, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden, wie es das Völkerrecht verlangt. Kernwaffen verletzen auch das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Sie richten in einem Ausmasse Zerstörungen an, die in keinem akzeptierbaren Verhältnis zu einem militärischen Vorteil stehen.

Für den Beitritt der Schweiz zum Atomwaffenverbotsvertrag werden allerdings vor allem sicherheitspolitische Überlegungen entscheidend sein. Ebenso das Verhältnis zu Staaten, die Nuklearwaffen besitzen oder im Rahmen von Bündnisverpflichtungen auf ihrem Gebiet stationiert haben. Es sind auch Befürchtungen geäussert worden, wonach der TPNW das bestehende nukleare Rüstungskontrollregime schwächt.

Ein Blick zurück: Die Schweiz und der Atomwaffensperrvertrag

Um die schweizerische Politik zu verstehen, lohnt sich ein Rückblick.  Anfang der 1960er Jahre sah es danach aus, dass bald viele Staaten Nuklearwaffen in ihre Arsenale einführen würden. Das hätte eine Destabilisierung und einen grossen Rüstungswettlauf zur Folge gehabt. Auch die Schweiz hatte damals ein militärisches Nuklearprogramm, das aber nie bis zur Herstellung einer einsatzfähigen Kernwaffe ging.

Der Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty NPT) von 1968 war eine Antwort auf diese Bedrohung. Er hat zum Zweck, dass Atomwaffen nicht über den Kreis der damaligen Atomwaffenstaaten hinaus verbreitet werden. Es handelt sich um die gleichen Staaten, die auch einen ständigen Sitz mit Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat haben.

Die Schweiz war anfangs skeptisch gegenüber dem Atomwaffensperrvertrag, vor allem, weil einige Staaten weiterhin Atomwaffen behalten durften, während andere darauf verzichten mussten. Das war Grund für den späten Beitritt der Schweiz zum NPT (1977).

Der NPT mit seinen umfangreichen Kontrollmechanismen wurde rasch zum Eckpfeiler der weltweiten Rüstungskontrolle. Er war ein Erfolg, obwohl wichtige Staaten ausserhalb des Vertrages blieben und Kernwaffen herstellten (Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea).

Der NPT enthält Bestimmungen über die nukleare Abrüstung, die sich an Atomwaffenstaaten richten (Artikel 6). Sie sind aber wenig verbindlich. Entsprechend blieb die nukleare Abrüstung während des Kalten Krieges weit hinter den Erwartungen zurück.

Nach dem Kalten Krieges und mit der Auflösung der Sowjetunion waren die Befürchtungen gross, dass sich Nuklearwaffen rasch weltweit ausbreiten. Die Schweiz begann sich aktiv an den internationalen Massnahmen gegen die Weiterverbreitung zu beteiligen. Seither setzte sich die Schweiz auch für eine umfassende Ächtung von Massenvernichtungswaffen ein.

Im Abrüstungsbericht des Bundesrates von 2017 heisst es «Die Schweiz setzt sich für ein Verbot und die Eliminierung sämtlicher Kategorien von Massenvernichtungswaffen ein, da diese sowohl für die internationale Sicherheit als auch für die Bevölkerung eine schwerwiegende Bedrohung darstellen.» Auch die neuste Strategie Rüstungskontrolle und Abrüstung für die Jahre 2022-2025 hält grundsätzlich an diesem Ziel fest.

Dieser Logik folgend beteiligte sich die Schweiz an den Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag. Den Vertrag nicht zu unterzeichnen, wäre eine Abkehr von einem etablierten Grundsatz der schweizerischen Aussenpolitik.

Gründe für den Beitritt

Die nachstehenden  und viele weitere Argumente sprechen für den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Sie werden zweifellos in der Schweiz breit geteilt, auch von den politischen Entscheidungsträgern des Bundes.

Neue Norm: Der Atomwaffenverbotsvertrag gibt das Ziel der umfassenden Ächtung und Beseitigung von Nuklearwaffen in einer völkerrechtlichen Norm vor. Das leisten weder der NPT noch andere Abkommen (atomwaffenfreie Zonen, Teststoppabkommen usw.). Es ist wichtig diesen Endzustand festzulegen, auch wenn eine universelle Ächtung von Atomwaffen realistischerweise lange dauern wird.

Für den Erfolg des TPNW ist selbstverständlich entscheidend, dass auch Nuklearwaffenstaaten beitreten und ihre Arsenale abbauen. Der TPNW ein klares Signal an die Atomwaffenstaaten, miteinander zu verhandeln, damit ihr Verzicht auf Atomwaffen möglich wird. Das ist anspruchsvoll und erfordert Zeit. Es muss Vertrauen geschaffen, und es müssen geopolitische Fragen geklärt werden, beispielsweise über Sicherheitsgarantien für Staaten, die militärischen Bedrohungen ausgesetzt sind wie Korea oder Taiwan.

Lassen die grossen internationalen Spannungen Fortschritte im Bereich der nuklearen Abrüstung überhaupt zu oder ist das Atomwaffenverbot eine sicherheitspolitische Wolkenschieberei? Die internationalen Beziehungen sind zurzeit schlecht. Das ist aber kein Grund, auf ambitiöse Zielsetzungen zu verzichten, wie sie der TPNW verfolgt. So paradox es klingt: schlechte Beziehungen beinhalten auch Chancen. Sie können eine Motivation für Verhandlungen sein und damit Vertrauen schaffen. Das bestätigt der Blick in die Geschichte. Die nukleare Rüstungskontrolle im kalten Krieg begann zur Zeit der grössten Spannungen, in den Jahren nach der Kubakrise, als die Welt am Abgrund eines nuklear geführten dritten Weltkrieges stand.

Das Risiko einer multipolaren oder unpolaren Welt: Es wird inzwischen oft von einem neuen Kalten Krieg gesprochen. Das ist unangebracht, vor allem, weil damit die Vorstellung einer stabileren Welt verbunden ist. Die Polarisierung zwischen den USA und China, die Spannungen zwischen Russland und den westlichen Staaten werden nicht in eine neue Starre der Abschreckung führen. Viel realistischer und beunruhigender ist die Perspektive einer multipolaren oder sogar unpolaren Welt, in der sich Nuklearwaffen verbreiten würden.

Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass wir uns im Falle einer machtpolitischen Eskalation nicht auf ein robustes Konfliktmanagement und eine wirksame Deseskalation verlassen können. Das ist nicht der UNO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit OSZE anzulasten, sondern den Staaten, die diese Organisationen geschaffen haben, um Probleme gemeinsam zu lösen und sie nun nicht nutzen.

Das internationale Regime der Rüstungskontrolle und Abrüstung befindet sich gegenwärtig in einer eigentlichen Krise. Die Genfer Abrüstungskonferenz kann sich seit Jahren nicht mehr auf eine gehaltvolle Verhandlungsagenda einigen. Die amerikanisch-russischen Nukleargespräche sind blockiert. Die geopolitischen Machtverschiebungen erfordern Vereinbarungen, die China einbeziehen. Davon ist nichts in Reichweite.

Kosten der Aufrüstung: Gegenwärtig finden eine eigentliche nukleare Aufrüstung und eine Modernisierung der Kernwaffenarsenale statt.  Nuklearwaffenprogramme verursachen enorme finanzielle Kosten in einer Zeit mit grossem Bedarf an Mitteln für die nachhaltige Entwicklung, in einer Zeit in der Menschen wieder stärker an Hunger leiden, vielfältige ökologische Herausforderungen bestehen und die Bekämpfung des Klimawandels grosse Mittel erfordert. Das erinnert daran, dass auch im Kalten Krieg die hohen Kosten des Rüstungswettlaufs ein Anreiz für Abrüstungsverhandlungen waren.

Technologiemissbrauch: Für ein umfassendes Atomwaffenverbot sprechen auch technologische Überlegungen. Nukleartechnologie – wie sie für den Bau der Bomben von Hiroshima und Nagasaki genutzt wurde – ist keine Spitzentechnologie mehr. Sie stammt aus einer Zeit, als es weder Farbfernseher noch Mobiltelefone gab. Atombomben können zwar nicht in der Garage gebaut werden, aber das Altern der Technologien macht es leichter, Nuklearwaffen herzustellen.

 Der Kampf gegen die globale Erwärmung verlangt eine rasche Dekarbonisierung und hat bereits zu einer weltweiten Renaissance der Kernenergie geführt. In den kommenden Jahren werden sich Nukleartechnologie, -güter und spaltbares Material zur zivilen Nutzung massiv verbreiten. Trotz der Kontrollmassnahmen der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA steigt das Risiko eines Missbrauchs für militärische Zwecke.

Hindernisse für den Beitritt

Zwei Problemfelder haben den Bundesrat offensichtlich bisher davon abgehalten, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten.

Schwächung des NPT-Regimes: Erstens die Befürchtungen, dass der TPNW das bestehende Regime der Nichtverbreitung (NPT) schwächen könnte. Diese Befürchtung ist unbegründet. Nichts im TPNW schränkt die Verpflichtungen der Staaten unter dem NPT ein. Der NPT mit seiner fast universellen Mitgliedschaft wird auf lange Zeit Eckpfeiler des internationalen Abrüstungsregimes bleiben. Das haben die TPNW-Vertragsstaaten 2022 an ihrer ersten Staatenkonferenz unmissverständlich ausgedrückt. Zudem stärkt der TPNW stärkt das vernachlässigte Abrüstungselement des NPT.

Schwierigkeiten mit der NATO. Die zweite Befürchtung betrifft die Zusammenarbeit der Schweiz mit der NATO. Wegen der prekären Sicherheitslage in Europa sucht die Schweiz nach Formen einer verstärkten Zusammenarbeit mit dem westlichen Bündnis, soweit es die Neutralität zulässt. Das Verhältnis der Schweiz zur NATO und zu den einzelnen Mitgliedstaaten ist gut.

Die Schweiz nimmt schon seit 1996 an der NATO-Partnerschaft für den Frieden teil. Sie hat sich an verschiedenen Programmen beteiligt, auch an einer NATO-geführten Operation (KFOR).

Das Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der NATO hängt nicht vom TPNW ab. Es gibt bedeutend wichtigere Aspekte. Neben neutralitätspolitischen Überlegungen beispielsweise die Grenzen einer Milizarmee für die Teilnahme an komplexen NATO-Übungen. Österreich und Irland sind dem TPNW beigetreten und arbeiten nach wie vor mit der NATO zusammen.

Der Beitritt der Schweiz zum Atomwaffenverbotsvertrag erfordert hingegen eine starke und klare Kommunikation an die Nuklearwaffenstaaten. Es geht nicht darum, einseitig auf das westliche Bündnis Druck zu machen, sondern darum, sämtliche Nuklearwaffenstaaten zu Verhandlungen aufzufordern, um die Voraussetzungen für einen umfassenden Verzicht auf Nuklearwaffen zu schaffen.

Die Schweiz unterstützt internationale Initiativen zur Reduktion von nuklearen Risiken im militärischen Bereich. Damit soll die Gefahr einer ungewollten Eskalation verringert werden. Diese Initiativen sind wichtig und müssen unbedingt fortgesetzt werden. Aber sie sind kein Ersatz für das langfristige Ziel einer Welt ohne Atomwaffen. Sie sind auch kein Mittelweg zwischen der Haltung der Nuklearwaffenstaaten und der umfassenden nuklearen Abrüstung.

Der Beitritt als Chance für die Schweiz

 In der Schweiz wurde viel darüber diskutiert, wie die Kollateralschäden eines Beitritts zum TPNW begrenzt werden können. Das ist der falsche Fokus. Der Beitritt zum TPNW ist in erster Linie eine Chance. Als permanent neutraler Staat und erfahrene Brückenbauerin hat die Schweiz gute Voraussetzungen, um eine positive Rolle zu spielen – auch weil Genf Sitz der Abrüstungskonferenz und wichtiger Standort für Nukleargespräche ist.

Schliesslich hat die Schweiz eine grosse humanitäre Tradition und ist Depositar der Genfer Konventionen. Damit hat sie auch eine besondere Verantwortung, auf die Unvereinbarkeit von Nuklearwaffen mit dem humanitären Völkerrecht hinzuweisen – Zusammen mit dem IKRK, das diese Rolle vorbildlich wahrnimmt. Auch aus dieser Optik wäre ein Fernbleiben der Schweiz vom Atomwaffenverbotsvertrag eine aussenpolitische Anomalie.

*) Martin Dahinden war Schweizer Botschafter in Washington und Direktor der DEZA. Er lehrt Sicherheitspolitik an der Universität Zürich.