Veranstaltungsbericht

Unter Zeitdruck sucht Europa mehr Resilienz

von Christoph Wehrli | Januar 2024
«Wohin geht die EU in der nächsten Legislaturperiode?» An einer aussenpolitischen Akademie in Zürich ist die SGA dieser Frage mit Bezug auf die Sicherheit, die Erweiterung der Union und die Energiewende nachgegangen. Die Schweiz steht grundsätzlich vor den gleichen Herausforderungen und hat ein Interesse an einer grossen und widerstandsfähigen EU.


In der schweizerischen Europapolitik dominiert oft die nationale und innenpolitische Perspektive. Die SGA hat nun an einer «Akademie» den Blick primär auf das grosse Gegenüber gerichtet und schweizerische Referenten ergänzend zur Entwicklung in den ausgewählten Bereichen Stellung nehmen lassen. Die Veranstaltung in Zürich war unter Leitung von Lucius Dürr organisiert worden; Jessica Marti, ebenfalls Vorstandsmitglied, übernahm die Moderation.

Riskante Abhängigkeit von den USA

Bei ihrem Amtsantritt in Brüssel 2019 hatte Ursula von der Leyen erklärt, sie wolle Präsidentin einer «geopolitischen» EU-Kommission sein. Jacob Ross, Forscher der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, urteilte in seinem Vortrag, diesem Anspruch sei das Gremium bisher nicht gerecht geworden. Die EU habe die Krisen in ihrem weiteren Umfeld von Berg-Karabach über den Nahen Osten bis in den Sahel kaum beeinflusst. Trotz einigen unternommenen Schritten – Verteidigungsfonds, neue Generaldirektion, «Strategischer Kompass», grosse Truppenübung – hänge die Sicherheit Europas weiterhin von den USA und damit auch von ihren Präsidentschaftswahlen im Herbst ab.

Der Brexit und die Wahl Donald Trumps waren vor einigen Jahren Anlass zu grösseren eigenen sicherheitspolitischen Anstrengungen gewesen und hatten auch etwa dem französisch-deutschen Projekt der Entwicklung eines Kampfflugzeugs Impulse gegeben. Umgekehrt stellte der Beobachter in der Amtszeit des europafreundlichen Joe Biden Rückschläge bei diesen Bemühungen fest – obwohl Europa auch den tieferliegenden Trend einer amerikanischen Neuausrichtung nach Westen und China zu beachten hätte. Vorschläge für «eine EU, die schützt» (Emmanuel Macron) lägen auf dem Tisch. Für diese hätte, wie Ross befürchtet, nicht zuletzt eine Stärkung der Rechtspopulisten in den Europawahlen im Juni negative Konsequenzen. Russlands Krieg gegen die Ukraine habe zwar ein Umdenken bewirkt, doch eine blosse Reaktion auf diese eine Gefahr genüge nicht. Erwünscht wäre eine Stärkung der allgemeinen Resilienz, auch etwa mit Blick auf russische Destabilisierungen in Afrika.

In der Schweiz beeinflusste die Weltlage die sicherheitspolitische Konjunktur ebenfalls. Wie Brigadier Oliver Müller ausführte, verlor die Verteidigungsfähigkeit bei der Zuteilung staatlicher Mittel nach 1989 an Gewicht. Eine Trendwende ist insofern schwierig, als etliche Jahre vergehen, bis aus einer «erkennbaren» eine «akzeptierte» Bedrohung wird. Der Vertreter der Armee dachte dabei speziell an das Ausbleiben einer klaren Reaktion auf die russische Einnahme der Krim 2014. Ein Kapazitätsaufbau brauche Geld und Zeit. Müller erwähnte positiv die Beschlüsse des Parlaments und sprach – gewissermassen notgedrungen - von einer Ausrichtung auf die Bedrohungen der 2030er und 2040er Jahre. Die internationale Kooperation streifte er kurz mit dem Beispiel, es gelte von der Beschaffung des F-35 durch andere Staaten zu lernen.

Optimismus zur Erweiterung

Rund zwanzig Jahre nach der «Osterweiterung» um zehn Staaten, denen seither noch drei weitere folgten, setzt die EU erneut zu einer grossen Expansionsrunde an. Die zehn Kandidaten und potenziellen Kandidaten, von denen Maarten Lemstra, Pressebeauftragter der Kommission, sprach, befinden sich allerdings auf ihrem Weg in die EU formell oder faktisch an unterschiedlichen Orten – auch wenn man vom Stillstand der Verhandlungen mit der Türkei absieht. Die Ukraine ist in einem existenziellen Verteidigungskrieg, und auch im Westbalkan entwickelt sich nicht alles nach Wunsch. Die Befürworter der Integration setzen namentlich auf die transformative Wirkung der Beitrittsperspektive, also auf den Anreiz zu politischen Reformen. Wie Lemstra zeigte, gilt ein ganzer Katalog von Kriterien, um die Fortschritte zu messen, die für eine bestimmte Etappe notwendig sind. Von den Staaten im Westbalkan wird parallel zur Annäherung an das europäische Binnenmarktrecht eine regionale Marktintegration verlangt, ausserdem beispielsweise die Gewährleistung des Eigentumsrechts. Zugleich leistet die EU erhebliche finanzielle Hilfe. Von der Erweiterung, die sie mit Optimismus (und auch mit einem gewissen Schematismus) verfolgt, verspricht sich die EU wie 2004 eine stabilisierende Wirkung auf dem Kontinent und ein rascheres Wirtschaftswachstum, speziell in den neuen Mitgliedstaaten. Davon würde auch die Schweiz profitieren, sagte Adrian Sollberger, Sektionschef der Schweizer Mission bei der EU. Er verwies zum Beispiel auf die starke Zunahme des Handels mit Polen nach dessen Beitritt, erwähnte aber auch die innere Sicherheit und bezeichnete die Beitrittsperspektive als das am besten funktionierende geopolitische Instrument der Union. Voraussetzung sei, dass die Integration gut gelinge – womit auch die Entscheidungsregeln angesprochen waren. Die Schweiz engagiert sich in den interessierten Ländern bereits in ähnlichem Sinn wie die EU. Die Bilateralen werden automatisch auf neue Mitglieder ausgedehnt – mit Ausnahme des Abkommens über die Personenfreizügigkeit, das ergänzt und nochmals (in der Schweiz referendumspflichtig) ratifiziert werden muss.

Grüne Erstarkung

Ein ehrgeiziges Programm hatte von der Leyens Kommission vor vier Jahren auch mit dem European Green Deal initiiert. Josha Frey, bis Ende 2023 als Grüner Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg, nannte das Vorhaben weitsichtig. Dadurch, dass sich die Welt seither verändert habe, sei es umso wichtiger geworden. Denn der russische Krieg gegen die Ukraine habe deutlich gemacht, dass die Transformation in Richtung emissionsfreie Wirtschaft nicht nur den plausibelsten Ausweg aus der Klimakrise biete, sondern auch ermögliche, die gefährliche Abhängigkeit von Energie aus autokratischen Staaten zu reduzieren. Frey wies zwar auf Lücken in der Umsetzung hin und würde einzelne Prioritäten anders setzen. Er zeigte aber eine geradezu frohe Zuversicht, dass die Umstellung langfristig die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die wirtschaftliche Überlegenheit der erneuerbaren Energien alle Staaten überzeugen werde. Allerdings bleibe nicht viel Zeit; Verschiebungen wären fatal. Das ökologische Grossprojekt erhält also mit dem allgemeinen und wohl «zeitgemässen» Begriff «Resilienz» einen zusätzlichen Akzent. Diese angestrebte Widerstandsfähigkeit versteht Frey weit. Eine ihrer grössten Bedrohungen sieht er in der Schwächung der Demokratie durch gezielte Desinformation. Dieser gelte es mit Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesundem Menschenverstand entgegenzutreten.

Nationalrätin Aline Trede, Präsidentin der grünen Fraktion, teilte die generellen Einschätzungen ihres deutschen Parteikollegen. Die Schweiz habe einmal als umweltpolitisch fortschrittlich gegolten, sei nun aber von der EU weit überholt worden. Immerhin habe die Umstellung auf erneuerbare Energien in letzter Zeit ebenfalls Schub erhalten, so dass das Klimaschutzgesetz, der Solarexpress und der Mantelerlass relativ rasch zustande kamen. Trede ist optimistisch, dass sich in den Verhandlungen um ein Stromabkommen mit der EU auch bei der Marktöffnung eine Lösung finden lassen wird. Das Vorab-Nein des Gewerkschaftspräsidenten hat sie «extrem verärgert». Es gelte, die politische Dynamik zu ändern.