Lesetipp

Warum das Rahmenabkommen gescheitert ist

von Daniel Brühlmeier | Juni 2022
Politikwissenschaftler René Schwok von der Universität Genève fragt nach den Gründen des einseitigen Abbruchs des InstA durch den Bundesrat und kommt zu einem für die Landesregierung wenig schmeichelhaften Ergebnis. Gleich in mehrfacher Hinsicht habe sie versagt.

Vor einem Jahr hat die Schweizer Regierung die Verhandlungen zu einem Institutionellen Abkommen (hier: InstA) in einem ausserordentlichen Schritt einseitig abgebrochen. René Schwok, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genève und ein ausgewiesener Spezialist der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, versucht dies in einem knappen und konzisen Werk («opuscule») mit den Mitteln rationaler Politik-Analyse und der Logik bilateraler Aushandlung zu ergründen.

Fünf Gründe für den unverständlichen Entscheid

Nach einer kurzen und prägnanten Darstellung der Hauptcharakteristiken des InstA fächert Schwok das Unverständnis bezüglich des Schweizer Vorgehens in fünf Punkten auf. Erstens sind da die zahlreichen und bedeutenden Konzessionen (etwa: Beschränkung auf Binnenmarkt-Verträge; dynamische statt automatische Übernahme; Zwei-Säulen-Überwachung; Lohnschutz; UBRL; Staatsbeihilfen; keine Erwähnung des Kohäsionsfonds), die die EU während der Aushandlung zugestanden hatte, womit das Ergebnis auch für den Bundesrat «in weiten Teilen im Interesse der Schweiz» (Bericht zum Verhandlungsabbruch, S. 16) und von der Schweiz gut verhandelt worden war. Zweitens war die EU – entgegen eines (auch vom Bundesrat) verbreitenden Eindrucks – ungewöhnlich flexibel, dies auch im Vergleich mit anderen Aushandlungen, etwa beim oft und fälschlicherweise zitierten Brexit.
Drittens ist nicht nachvollziehbar, warum der Bundesrat die unbegründeten Katastrophennarrative seitens der Gewerkschaften (Lohnschutz), der SVP («Sozialtourismus»), aber auch der Kantone (Staatsbeihilfen) wenn nicht übernommen, so doch nicht konsequent und mit sauberen Argumenten und Vergleichen auf europäischem Niveau entkräftet hat. Ähnlich gelagert ist viertens die Untätigkeit des Bundesrates, allfällige Schutzmassnahmen in die Wege zu leiten. Schliesslich hat der Bundesrat fünftens den Abbruch sehenden Blickes auf dessen negativen Konsequenzen beschlossen, sei es bezüglich der Erosion bestehender, aber auch der Schwierigkeit neuer Verträge.

Schwache Landesregierung als Hauptgrund für den Abbruch

Schwoks Analyse der Gründe für den Abbruch basiert auf den Programmen der Bundesratsparteien und den Persönlichkeiten im Bundesrat, wobei er einräumt, dass man bezüglich letzterem wegen der Unzugänglichkeit der Dokumente auf Vermutungen angewiesen ist. Die SVP kann hier wegen ihrer konsequenten Ablehnung des InstA ausser Acht bleiben.

Die fünf Bundesrätinnen und -räte, die eigentlich für eine komfortable Mehrheit zugunsten des InstA hätten sorgen können, hatten verschiedene Hypotheken. Die beiden Parteien mit Zweiervertretung im Bundesrat, die SP und die FDP, sind zwar grundsätzlich europafreundlich, aber die eine, die SP, war quasi in Geiselhaft der Gewerkschaften, die gegen das InstA militierten und zu dessen Abbruch ähnlich jubilieren wie die SVP. Auch die FDP hat eine widersprüchliche Haltung gegenüber dem InstA: Noch 2019 empfahl sie ein «JA aus Vernunft» und befürwortete explizit sämtliche seiner Eckpunkte (mit Ausnahme von Vorbehalten gegenüber der UBRL). Diese Haltung, die auch von einer grossen Mehrheit der (vor allem Export-)Wirtschaft geteilt wurde, bröckelte zunehmend während der 2019 gestarteten Konsultationsphase, die der Bundesrat in seinem Bericht euphemisch (oder auch zynisch?) einen «Reifungsprozess» nennt. Auch aus «ultra-liberalen Finanzkreisen» meldete sich Widerstand.

Beide Parteien, SP wie FDP, müssen zudem fürchten, nach den Parlamentswahlen von 2023 ihren arithmetischen Anspruch auf zwei Sitze in der Landesregierung zu verlieren, was eine defensive Haltung noch zusätzlich fördert.

Den Hauptgrund des Abbruchs ortet Schwok aber bei den Persönlichkeiten der Regierung, die eine scheinbar paradoxe, aber für die Schweiz allgemein nicht untypische Mischung von einem «Gefühl der Ohnmacht im Innern und einer Position der Stärke nach Aussen» abbilden. Ersteres äussert sich zum InstA entlarvend darin, dass man sich im Bericht eine Zustimmung im Parlament und in einer Volksabstimmung gar nicht mehr zutraut. In der Tat: Mit der Ausnahme der Justizministerin sind sie (vor allem auch gegenüber ihrer eigenen Partei) schwache, wenig entscheidungsfreudige Persönlichkeiten, die sich entweder hinter ihren vorgeblich europa-fernen Departementen verstecken oder, wie im Fall des Aussenministers, ihre eigentliche Hauptaufgabe zunehmend (und wohl z.T. auch aus Opportunismus) aus der Hand geben.

Die vermeintliche Position der Stärke zeigt sich gerade im Verhältnis mit der EU deutlich: Man meint, wenn man das InstA aufgebe, gäbe es ja den sicheren Hafen der bestehenden Bilateralen Abkommen. Und die schmollend-verärgerte EU werde sich über kurz oder lang wegen ihrer (!) wirtschaftlichen Abhängigkeit in eine von der Schweiz definierte Zukunft bewegen; allfällige Nadelstiche und Sanktionen werde man schon durchstehen. (Und, darf man anfügen, in einer Fernsehsendung behauptete die Staatssekretärin allen Ernstes, die Probleme mit der EU rührten allein daher, dass diese bestehende Verträge nicht aktualisieren wolle.)

Dass die Schweiz mit dieser Haltung in mittelfristiger Zukunft erfolgreich sein wird, sei – so Schwok abschliessend in seiner für den Bundesrat wenig schmeichelhaften Analyse – eine mögliche Eventualität, in der auf den Abbruchentscheid des Bundesrates mit etwas mehr Wohlwollen zurückgeblickt würde. Sollten aber keine neuen Abkommen abgeschlossen werden, die bilateralen Beziehungen erodieren, die Wirtschaft, die Energieversorgung und die Universitäten leiden, dann würde das Unverständnis noch weiter wachsen.

René Schwok : Accord institutionnel : retour sur un échec. Lausanne, Fondation Jean Monnet pour l’Europe, Collection débats et documents, numéro 25, mai 2022, 66 S. (open access: https://jean-monnet.ch/wp-content/uploads/2022/05/22-05-accord-institutionnel-r--schwok-cdd-n-25.pdf)