Kolumne

Warum die Schweiz von 1848 auf eine eigene Aussenpolitik verzichtete

von Tobias Kaestli | Juli 2023
Als ich kürzlich ChatGPT die hinterhältige Frage stellte, ob die „immerwährende Neutralität“ in der schweizerischen Bundesverfassung erwähnt sei, antwortete die „intelligente“ Maschine: Die Neutralität der Schweiz wird durch mehrere Artikel der Bundesverfassung geschützt. Der wichtigste Artikel in diesem Zusammenhang ist Artikel 2, der die Verpflichtung zur Wahrung der Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz (…) festlegt.» Schon in der Bundesverfassung von 1848 sei im Artikel 2 die Neutralität als Bundeszweck bezeichnet worden. Ich machte die Maschine darauf aufmerksam, dass diese Antwort nicht korrekt sei, was sich mit einem Blick in die beiden Verfassungen leicht feststellen lässt. Sie entschuldigte sich und gab den Fehler zu.

ChatGPT sammelt unzählige Informationen im Internet und bastelt daraus seine Antworten. Wenn also auf meine Frage die zitierte Fehlinformation herauskam, so bedeutet dies, dass Falschaussagen zur schweizerischen Neutralität massenhaft im Netz herumschwirren. Zwar gibt es einen Kernbestand, der bis heute rechtlich gültig ist. Zum grossen Teil aber ist die Neutralität der Schweiz ein Mythos und ein Dogma, das die schweizerische Aussenpolitik in ein nachgerade unerträgliches Korsett hineinzwängt. Was 1848 noch einigermassen Sinn machte, ist inzwischen höchst unzeitgemäss geworden.

Fakt ist: 1814/15 bekräftigten „die Mächte“ (d. h. die europäischen Monarchen) mehrmals die „immerwährenden Neutralität“ der Schweiz, weil sie im Interesse Europas liege. Die kriegerische napoleonische Ära sollte beendet und eine dauerhafte europäische Friedensordnung geschaffen werden. Die Schweiz bekam die Funktion eines Pufferstaates zwischen den früheren Feinden Frankreich und Österreich zugewiesen.

Und heute? Auf Anregung ihres Chefideologen Christoph Blocher will die SVP die spezielle politische Lage im Europa von 1814/15 sozusagen als ewiggültige Voraussetzung der schweizerischen Aussenpolitik anerkennen und die „immerwährende Neutralität“ in die Verfassung schreiben. Auf die Verfassungsväter von 1848 kann er sich dabei nicht berufen. Für diese standen andere Themen im Vordergrund. Generell gesagt ging es ihnen darum, den altertümlichen eidgenössischen Staatenbund zu einem modernen Nationalstaat weiterzuentwickeln. Sie wollten die Wirtschaft aus kleinräumigen Fesseln befreien und einen Staat ohne Binnengrenzen und Binnenzölle aber mit einer einheitlichen Währung schaffen; sie erstrebten einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt.

Gegen den Willen der Konservativen setzten die Liberalen (Freisinnigen) ihr Programm durch. Bis zu einem gewissen Grad waren sie aber auch um Ausgleich bemüht. Sie lehnten die Einheitsstaatsidee ab und entwarfen einen demokratisch und föderalistisch organisierten Bundesstaat, der die Rechte der katholisch-konservativen Kantone zu wahren wusste.

Auch die Neutralität war eine Art ausgleichendes Element, weil sie unterschiedliche aussenpolitische Sympathien in der deutschen und in der lateinischen Schweiz „neutralisierte“. Die Freisinnigen von 1848 massen ihr aber nur eine relative Bedeutung zu. Als in der Tagsatzung der Antrag gestellt wurde, die Wahrung der Neutralität sei als Bundeszweck in die Bundesverfassung zu schreiben, war die Mehrheit dagegen, weil sie davon ausging, dass die Neutralität nicht Zweck, sondern ein Mittel zum Zweck sei. Der Zweck sei die Unabhängigkeit der Schweiz, und man könne nicht wissen, ob es unter Umständen nötig sein werde, die Neutralität aufzugeben, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern.

Trotz dieses schlagenden Arguments wurde die Neutralität dann doch noch in der Bundesverfassung erwähnt, nämlich im Artikel 90, in dem die Befugnisse und Aufgaben des Bundesrats aufgezählt werden. Dort heisst es unter Ziffer 9: „Er [der Bundesrat] wacht für die äussere Sicherheit, für die Behauptung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz.“

Es fällt auf, dass von den 16 Ziffern des Artikels 90 deren 14 auf die Innenpolitik bezogen sind; nur zwei haben etwas mit den Beziehungen der Schweiz zum Ausland zu tun, nämlich die zitierte Ziffer 9 sowie die Ziffer 8, in der es heisst: „Er wahrt die Interessen der Schweiz nach aussen, wie namentlich ihre völkerrechtlichen Beziehungen, und besorgt die auswärtigen Angelegenheiten überhaupt.“

Ein Aussendepartement war damals noch nicht vorgesehen; der jährlich wechselnde Bundespräsident sollte für die Aussenpolitik zuständig sein. Vermeintlich durch die Neutralität abgesichert, vernachlässigte der Bundesrat die Aussenpolitik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Neutralität einen Triumph, als in einem völkerrechtlichen Abkommen, nämlich in der Haager Landkriegsordnung von 1907, die Rechte und Pflichten im Krieg verbindlich definiert wurden. Dabei wurden ausdrücklich auch die Rechte und Pflichten der Neutralen benannt. Das so geschaffene und bis heute gültige Neutralitätsrecht sichert neutralen Staaten das Recht auf Unabhängigkeit und Schutz vor kriegerischen Eingriffen zu. Die Wirkung war beschränkt: Das neutrale Belgien wurde im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg unter Missachtung des Neutralitätsrechts von den Deutschen besetzt.

Für das Selbstverständnis der Schweiz war weniger das Neutralitätsrecht entscheidend als vielmehr die eigenständig formulierte schweizerische Neutralitätspolitik. Diese liess sich pragmatisch den jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Während des Zweiten Weltkriegs bedeutete dies, dass die Schweiz nicht aktiv gegen Hitlers Armeen kämpfen musste, gleichzeitig aber Waffen und Munition aus schweizerischer Produktion sowohl an die Alliierten als auch an Deutschland verkaufen konnte. Ein profitables Geschäft! Diese Art der Neutralität missfiel den Alliierten; sie bezichtigten die Schweiz, durch ihre Handelsbeziehungen mit den Nazis den Krieg verlängert zu haben.

Nach Kriegsende schufen die Siegermächte die UNO und verabschiedeten eine für alle UNO-Mitglieder verbindliche Charta. Darin war ein Gewaltverbot bei internationalen Konflikten enthalten. Angriffskriege waren von nun an geächtet, und wer sich nicht an das Gewaltverbot hielt, sollte durch die Staatengemeinschaft sanktioniert werden. Dieses System der kollektiven Sicherheit sollte den Frieden sichern. Neutralität passte nicht in dieses Konzept. Die Schweiz aber hielt an ihrer Neutralitätspolitik fest und trat der UNO vorerst nicht bei.

Der UNO-Sicherheitsrat, dem die Schweiz im laufenden Jahr 2023 angehört, beaufsichtigt das System der kollektiven Sicherheit und verhängt Sanktionen gegen diejenigen, die das Völkerrecht verletzen. Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist es der Schweiz nicht mehr möglich, eine glaubwürdige Neutralitätspolitik zu formulieren. Die schweizerische Aussenpolitik verheddert sich in Widersprüchen. Die Weigerung, der angegriffenen Ukraine mit allen Mitteln beizustehen, ist absurd und spielt dem Aggressor in die Hände.

Die einst bewusst herbeigeführte aussenpolitische Schwäche des Bundesrats wird zur Kalamität. Das zeigt sich heute nicht nur im Verhältnis unseres Landes zur Ukraine, sondern auch im Verhältnis zur EU. Offensichtich ist unser Land ein Teil Europas, aber unsere Regierung tut so, als wäre sie es nicht. Das Abseitsstehen der Schweiz ist unverständlich, zumal die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg unübersehbare Parallelen zur Bundesstaatsbildung der Schweiz im 19. Jahrhundert aufweist. Eigentlich sollte unser Land Vorreiter der europäischen Einigung sein. Zumindest sollte der Bundesrat das Verhältnis zur EU mit demselben Mut neugestalten, den die Verfassungsväter von 1848 an den Tag legten. Mit der Beschwörung der Neutralität und der Angst vor „fremden Richtern“ lässt sich unsere Zukunft nicht vernünftig gestalten!

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Tobias Kaestli ist Historiker und Journalist in Biel. Als Autor und Herausgeber veröffentlichte er zahlreiche Werke zur Geschichte der Schweiz und der Stadt Biel, so «Die Schweiz, eine Republik in Europa» und «Selbstbezogenheit und Offenheit – Die Schweiz in der Welt des 20. Jahrhunderts» (beide NZZ Verlag, 1998 und 2005) und neustens die «Kleine Geschichte der Stadt Biel» (Sinwel, 2022).