Weissrussland sucht echtere Unabhängigkeit

von Christoph Wehrli | März 2019
Seit der Ukrainekrise und der russischen Annexion der Krim sucht Weissrussland intensiver Kontakte mit dem Westen. Zwei schweizerische Kenner des Landes beurteilen die Tendenz vorsichtig positiv.

Das Abkommen von Minsk, das 2015 zur Deeskalation des Konflikts in der Ukraine abgeschlossen wurde, hat einen wenig bekannten und wenig geachteten Staat mindestens eine Zeitlang ins internationale Licht gerückt. Dass die Hauptstadt Weissrusslands Ort der Verhandlungen war, bedeutet einen Erfolg für das Regime mit seiner Politik, mehr Unabhängigkeit vom dominanten Partner Russland zu gewinnen und Offenheit nach Westen zu zeigen. Auf die Kontaktsuche seitens des Minsker Parlaments antworteten in Bern Parlamentarierinnen und Parlamentarier der vier Bundesratsparteien mit der Bildung einer Freundschaftsgruppe Schweiz – Belarus. Diese hat nun zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik den Wandel und seinen Kontext zum Thema einer Veranstaltung im Bundeshaus gemacht. Referenten waren Claude Altermatt, der diplomatische Vertreter der Schweiz in Weissrussland, und Benno Zogg, Forscher am Zentrum für Sicherheitspolitik der ETH Zürich.

Reformresistenz
Weissrussland war lange ein Teil von Polen, kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft, wurde später zur «vermutlich sowjetischsten aller Sowjetrepubliken» (Zogg) und erlangte 1991 bei der Auflösung der UdSSR, kaum darauf vorbereitet, die Unabhängigkeit. Nach wie vor ist es mit Russland eng verbunden, nicht zuletzt sprachlich, und auf günstige Energielieferungen, Kredite und Investitionen aus dem grossen Nachbarstaat angewiesen. Auch eine tiefgreifende Transformation im Innern ist bisher ausgeblieben. Staatsbetriebe machen immer noch einen grossen Teil der Wirtschaft aus – als eine der privaten ausländischen Firmen ist Stadler Rail zu erwähnen, dessen 2014 eröffnetes Werk gegen tausend Personen beschäftigt. Weiterhin besteht aber auch ein relativ gutes Sozialsystem mit unentgeltlichem Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten.

1994 wurde ein Präsidialsystem eingeführt, und seither übt Alexander Lukaschenko die Macht aus. Das Regime ist autoritär (von «Diktatur» sprach man aber nicht), und die Menschenrechtslage ist schlecht. Die Justiz nimmt öffentlich Weisungen der Präsidenten entgegen. Dass Weissrussland als letztes Land in Europa Todesurteile fällt und vollstreckt, ist auch ein Hindernis für den Beitritt zum Europarat. Ein eigentlicher Systemwandel ist trotz gewissen Veränderungen nicht in Sicht.

Der Schock von 2014
Dass Lukaschenko freundliche Signale Richtung Westen sendet, gehört seit langem zu einer Art Schaukelpolitik, die Belarus mehr Spielraum verschaffen soll, ohne die Allianz mit dem mächtigen Partner im Osten zu gefährden. Die immer wieder öffentlich ausgetragenen Dispute mit Russland könnten nach Zogg demnach auch bewusst inszeniert sein. Beide Referenten sehen indessen in der jüngsten Vergangenheit eine neue, ernsthafte Tendenz. Dass russische Vorgehen in der Ostukraine und auf der Krim – wie auch der Sturz des Regimes in Kiew – habe als Schock gewirkt und Reaktionen ausgelöst. Zogg sprach vom Bestreben, das Nationalgefühl zu stärken und die Aussenbeziehungen zu diversifizieren oder zu normalisieren. Weissrussland führt den Handel mit der Ukraine fort, zeigt Interesse an Investitionen aus China und versucht sich etwa mit Konferenzen im Rahmen der OSZE, aber auch mit dem Angebot von Friedenstruppen für die Ukraine als vermittelnde Kraft zu etablieren. Ein konkretes Zeichen der Öffnung ist ferner die Abschaffung des Visumspflicht für Touristen.

Für die Schweiz sieht man Möglichkeiten, den Kontakt vorerst in eher unpolitischen Bereichen, beispielsweise mit einem Studentenaustausch, zu verstärken. Ein älteres Engagement ist jenes für Kinder, die unter den (grenzüberschreitenden) Auswirkungen der Atomkatastrophe von Tschernobyl zu leiden hatten und von privaten Organisationen zur Erholung oder Behandlung eingeladen wurden. Auf offizieller Ebene ist heute eine «Aufwertung» der diplomatischen Vertretung in Gang.