Lesetipp

Globale Migration – Zwänge, Probleme, Chancen

von Christoph Wehrli | November 2023
In ihrem entwicklungspolitischen Jahrbuch lenkt Caritas den Blick diesmal auf die Bedeutung der Migration für den globalen Süden. Es wird für eine bessere Nutzung ihrer Potenziale plädiert und speziell das nach Afrika vorverschobene Abwehrdispositiv Europas abgelehnt.

Äthiopien, das einen sehr opferreichen internen Krieg hinter sich hat, beherbergt etwa 800'000 ausländische Flüchtlinge und ist gleichzeitig ein Auswanderungsland. Männer ziehen vor allem in Richtung Südafrika oder Europa, Frauen suchen, oft unter dem Druck ihrer Familie, in den Golfstaaten einen Erwerb in Haushalten oder im Gastgewerbe. Doch mehr als eine halbe Million Äthiopierinnen wurden seit 2017 aus Saudi-Arabien ausgewiesen. Solche Realitäten der weltweiten Migration sind im neuen Caritas-Almanach Entwicklungspolitik ebenso ein Thema wie Ansätze zu einem internationalen Normenwerk, Hilfsprojekte oder die Politik der EU und der Schweiz. Die Beiträge aus Wissenschaft und Praxis stehen unter dem Titel «Infrastrukturen der globalen Migration». Der zumindest missverständliche Begriff steht für sämtliche - mehr oder weniger gestaltbare – Rahmenbedingungen und Einrichtungen, von Rechtsvorschriften bis zu Geldflüssen, vom Smartphone bis zu sozialen Netzen.

Erweiterte Nothilfe

Grosse Fluchtbewegungen kennt man seit letztem Jahr auch wieder innerhalb Europas. Bei der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge leisten Polen und die Moldau Besonderes. Im kleinen südwestlichen Nachbarland der Ukraine kam es zu Spannungen, bis ein grosser Teil der Geflüchteten weiterzog. In Polen nimmt nun namentlich bei den Freiwilligen, wie festgestellt wird, Erschöpfung überhand. Umso wichtiger sind Leistungen wie die des internationalen Caritas-Netzes.

Komplex sind die Faktoren, die im Südsudan zur Flucht in andere Landesteile und ins Ausland geführt haben: Bürgerkrieg, Jahrhundertregen und eine Hungerkrise, indirekt auch der Klimawandel, der andere Ursachen beeinflusst und die Verletzlichkeit der Betroffenen erhöht. Rund 850'000 Personen erhalten Schutz in Uganda. Ein Projekt, das Caritas mit mehreren Partnern durchführt, richtet sich an Binnenvertriebene, Flüchtlinge wie auch Ansässige und verbindet humanitäre Nothilfe mit Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft und Konfliktminderung.

«Beitrag zur Entwicklung»

Die nicht gewaltbedingte Migration erscheint in dem Band mehr als Chance denn als Problem. Hervorgehoben wird einmal mehr die Rolle der Geldüberweisungen an die Familienangehörigen in der Heimat. Die Migrantinnen und Migranten leisteten «den grössten Beitrag an die Entwicklung des globalen Südens», schreibt eine Mitarbeiterin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Der Vergleich mit dem (geringeren) Umfang der Entwicklungshilfe droht diese allerdings auf Geldtransfers zu reduzieren. Umgekehrt halten zwei Caritas-Mitarbeitende fest, die Rimessen nach Kosovo dienten oft nur dem täglichen Konsum und stärkten die Wirtschaft kaum. Mit einem Fonds werden daher in der Diaspora Mittel für Investitionen in Form von Geschäftspartnerschaften mobilisiert. Die Deza ihrerseits fördert über den UNO-Kapitalentwicklungsfonds neue Finanzdienstleistungen für Migranten, so dass Überweisungen günstiger erfolgen und beispielsweise zum Ansatz für Sparmöglichkeiten und Kleinkredite werden können.

Die positive Sicht der Auswanderung entspricht der Perspektive des Migrationspaktes der UNO, wonach der Nutzen für Herkunfts- und Zielländer gesteigert werden soll und kann. (Dieses «Soft Law»-Instrument entfaltet durch den Berichterstattungsmechanismus, der noch systematisiert werden soll, eine gewisse Dynamik in Richtung Verbindlichkeit, was eine nachträgliche Ratifikation durch die Schweiz nicht erleichtern dürfte.) Die Gefahr des Brain Drain, des Verlustes qualifizierter Berufsleute, wird in dem Band kurz erwähnt. Man könnte indes auch oder deutlicher sagen: Es erscheint generell alles andere als «nachhaltig», eher als ausbeuterisch, dass die gutgestellten Länder Arbeitskräfte absorbieren, die auf Kosten ihrer wirtschaftlich schwachen Herkunftsgesellschaft aufgewachsen und ausgebildet worden sind. Zudem baut das Rimessen-System auf auseinandergerissene Familien.

Ursachenbekämpfung und Gerechtigkeit

Skeptisch beurteilen mehrere Autorinnen und Autoren, was als an sich plausible Bekämpfung von Flucht- oder Migrationsursachen propagiert wird. So wird kritisiert, wie die fünf Milliarden Euro des 2015 beschlossene Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika eingesetzt worden sind. Der Löwenanteil sei auf die Migrationssteuerung entfallen, also nicht auf Entwicklungsförderung, sondern auf das Grenzmanagement und ähnliche Massnahmen. Namentlich im Fall von Libyen, das Migranten auf dem Weg nach Europa abfängt, führt diese Abwehr zur Verletzung des Rückschiebeverbots. Und in Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) beeinträchtigen verschärfte Grenzkontrollen die umfangreiche, stufenweise liberalisierte regionale Migration und damit das gesamte Gefüge dieses Wirtschaftsraums. Inzwischen hat der Putsch in Niger die Zusammenarbeit mit der EU zumindest vorläufig infrage gestellt.

Im Weiteren relativieren sich Massnahmen in den Herkunftsstaaten wie etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen, wenn man die Migrationsursachen letztlich im ganzen Nord-Süd-Gefälle und die Verantwortung für eine sozialökologische Transformation primär im globalen Norden sieht. Fernziel wäre demnach eine Mobilitäts- oder «Migrationsgerechtigkeit» im Sinn gleicher Chancen und guter Zusammenarbeit. Solche Visionen drohen allerdings den unmittelbaren Handlungsbedarf zu verdrängen. Wenn gemäss UNO-Pakt reguläre Migration anzustreben ist, impliziert dies, dass irreguläre Migration unerwünscht ist. Für die Fachleute von Caritas gibt es hingegen nur «sogenannte» irreguläre oder illegale Migration; das Problem sei der Mangel an sicheren und legalen Wegen für Flucht und Migration.

Der Almanach kann nicht alle Wünsche befriedigen, auch weil der rote Faden stellenweise etwas verschlungen ist. Nichtsdestoweniger ist er ein substanzieller Beitrag zu einer Diskussion mit ausgeweitetem Horizont.

Almanach Entwicklungspolitik 2024. Gehen müssen, bleiben können. Infrastrukturen der globalen Migration. Redaktion: Fabian Saner. Caritas-Verlag, Luzern 2023. 264 S., Fr. 39.-.
Meinungsbeitrag

Die Schweiz und der Wiederaufbau in der Ukraine: Wir brauchen ein Gesetz

von René Holenstein (Mitarbeit: Therese Adam und Markus Heiniger) | Oktober 2023
Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz ihre Hilfe für die Ukraine signifikant erhöht und mit einer kohärenten Strategie mittelfristig ausrichtet. Eine kleine Gruppe Ehemaliger des EDA hat dazu einen konkreten Vorschlag gemacht.