Veranstaltungsbericht

Weniger Angst vor dem Binnenmarktgericht

von Christoph Wehrli | März 2024
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wirke faktisch bereits heute stark in die Schweiz und ihre Rechtsgestaltung hinein, und sein vorgesehener Einbezug in die Streitschlichtung zwischen der Schweiz und der EU sei im Ganzen positiv zu beurteilen. Das führte der Europarechtler Matthias Oesch an einer Aula-Veranstaltung in Bern aus.

Die schweizerische europapolitische Diskussion über Themen wie die Spesen für entsandte Arbeitnehmer kontrastiere allzu klar zum Ringen der Europäischen Union um eine Antwort auf Russlands Krieg gegen die Ukraine oder um den Green Deal, bemerkte Rudolf Wyder, Vizepräsident der SGA, zur Einleitung der Veranstaltung an der Universität Bern. Gemeinsam mit der Europäischen Bewegung Schweiz widmete sich die SGA einem grundsätzlicheren Thema, das die beiden Ebenen verbindet: dem Gerichtshof der EU und seiner Bedeutung für die Schweiz. Matthias Oesch, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Zürich, ausserdem Mitglied des SGA-Vorstands, hat darüber ein Buch publiziert und ging in seinem Vortrag sachorientiert an das politisch aufgeladene Thema heran.

Auf leisen Sohlen, mit grossem Abdruck

1952 als Gericht der Montanunion gegründet, wirkte der EuGH vor allem auf dem Weg zum europäischen Binnenmarkt als Integrationsmotor. Als eines der wegweisenden Urteile erwähnte Oesch jenes aus dem Jahr 1964, das im Streitfall einer Stromrechnung von 2000 Lire den Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht etablierte. Der EuGH spielte aber auch bei der Verankerung der Grundrechte auf Ebene der EU eine führende Rolle und urteilte namentlich etwa im Datenschutz zugunsten des Einzelnen. Die starke Stellung des Gerichts sei in den Gründungsverträgen der (Rechts-)Gemeinschaft angelegt, sagte Oesch zur Kritik, es neige zu unzulässigem Aktivismus. Die Mitgliedstaaten übernähmen denn auch mit wenigen Ausnahmen die Praxis des EuGH in ihr Recht.

Auf leisen Sohlen, aber mit grossem Abdruck fasse der EuGH auch in der Schweiz Fuss, sagte Oesch. Zum einen legten die eidgenössischen Gerichte die Abkommen mit der EU konsequent im Licht der europäischen Rechtsprechung aus. Zum anderen spiele auch bei der eigenen Gesetzgebung ein «Europa-Reflex», indem sich diese oft an den Erlassen der Union orientiere. Besonders etwa im Wettbewerbs-, im Mehrwertsteuer- oder im Datenschutzrecht gelte: «Die EU gibt den Takt an, die Schweiz folgt hintenan.» Eine weitere Wirkungslinie führt über internationale Unternehmen, wenn sie die Vorgaben des EuGH wie zum Beispiel Google das «Recht auf Vergessenwerden im Internet» von sich aus auch in der Schweiz befolgen.

Entpolitisierte Streitbeilegung

Im beschriebenen Kontext relativiert sich eigentlich die neue Rolle des EuGH bei der Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU, wie sie sich in den nun auszuhandelnden Abkommen abzeichnet. Oesch begrüsste das vorgesehene Schiedsverfahren als Entpolitisierung, da es der Schweiz einen Schutz vor ungerechtfertigten Massnahmen (des stärkeren Partners) biete und auch ihr einen Rechtsweg öffne. Im EuGH, der dabei relevante EU-Bestimmungen auslegen soll, ist die Schweiz zwar nicht vertreten, doch fungiere dieser hier als Gericht des gemeinsamen Binnenmarkts, sagte der Jurist zur «billigen Rhetorik» mit den «fremden Richtern». Nichts deute darauf hin, dass er tendenziell gegen die Schweiz urteile. Im Alltag werde ohnehin die schweizerische Justiz für den Rechtsschutz sorgen.

Oesch machte indes Vorschläge für Verbesserungen, die man noch auszuhandeln versuchen könnte. Der EuGH sollte nicht schon eingeschaltet werden müssen, wenn eine Vertragsbestimmung dem EU-Recht nur ähnlich sei. Ob bei Vertragsverletzungen Ausgleichsmassnahmen verhältnismässig seien, hätte er vorweg und nicht nachträglich zu entscheiden. Und solche Massnahmen sollten nicht in beliebig anderen Bereichen als denen des berührten Vertrags zulässig sein.

Die «fremden Richter» bleiben im Raum

In der von Markus Mugglin geleiteten Diskussion ging es um die (innen)politischen Konsequenzen. FDP-Nationalrat Simon Michel hat als Medtech-Unternehmer Verständnis für die Situation, doch emotional wird es ihm «etwas mulmig», wenn Oesch vom «Supreme Court für ganz Europa» spricht oder wenn er resümiert: «Mittlerweile durchdringt das EU-Recht das schweizerische Recht in seiner ganzen Breite und Tiefe.» Grossen Teilen der Bevölkerung würde es Angst machen, wüssten sie darum. Die «fremden Richter» zu entemotionalisieren, sei eine Herkulesaufgabe, sagte Michel mit Blick auf die zu erwartende Abstimmung über die neuen Verträge.

Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne), Mitglied des SGA-Vorstands, sieht in der vorgesehenen institutionellen Regelung schlicht die – von manchen gescheute – Konsequenz der enger gewordenen Beziehung zur EU. Als Vorteil speziell für den schweizerischen Lohnschutz hob sie die Möglichkeit hervor, neues EU-Recht allenfalls nicht zu übernehmen, dafür allerdings einen Preis in Form von Ausgleichsmassnahmen zu zahlen – mehr könne man von einem so wichtigen Partner nicht wollen. Der SVP wende sich letztlich dagegen, dass die Abkommen «gemäss den Grundsätzen des Völkerrechts» ausgelegt werden sollen, wie die beiden Seiten übereingekommen sind.

Die Rolle des EuGH zu akzeptieren wird dadurch kaum leichter, dass die Schweiz generell «ein gespaltenes Verhältnis» zur Konfliktlösung durch Gerichte hat, wie Oesch bemerkte. So gelangen die Kantone bei Streitigkeiten mit dem Bund kaum an das Bundesgericht, es fehlt eine allgemeine Verfassungsgerichtsbarkeit, und in der Welthandelsorganisation (WTO) legt die Schweiz Differenzen vorzugsweise auf dem Verhandlungsweg bei. Dieser soll indessen auch bei Auseinandersetzungen mit der EU weiterhin an erster Stelle stehen.

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Matthias Oesch: Der EuGH und die Schweiz. buch & netz, Kölliken 2023. Online: eizpublishing.ch.

Als «Lesetipp» an dieser Stelle besprochen: Klick den Link.