Kolumne

Wenn Neutralität zur Komplizenschaft führt

von Martin Luzi Büechi* | Juli 2023
In einem Konflikt zwischen zwei Nationen ist die Schweiz zur Neutralität verpflichtet, wie sie das im Beitrittsgesuch des Bundesrates zur UNO zum Ausdruck bringt. Diese Neutralitätserklärung bezieht sich aber nur auf den militärischen Kontext. Wenn das humanitäre Völkerrecht verletzt wird, kann sich die Schweiz darum nicht auf die Neutralitätserklärung beziehen. Sie ist aufgrund des internationalen Rechts verpflichtet, sich für die Einhaltung der Menschenrechte aktiv einzusetzen, denn seit Juli 2002 ist in der Schweiz das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft. Dieses deckt auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab, wie z.B. aussergerichtliche Tötungen, zwangsweise Überführung der Bevölkerung, Deportationen, Folter, Vertreibungen etc. Diesbezüglich gefordert wäre die Schweiz in Israel, einem Staat der von sich sagt, er sei die einzige Demokratie im Nahen Osten und zu dem die Schweiz sehr gute Beziehungen pflegt. Doch in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten geschehen in regelmässigen Abständen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Vertreibung der Zivilbevölkerung und dem gleichzeitigem Ausbau der jüdischen Siedlungen.

Dass diese Vertreibungen gewollt und nicht Zufall sind, zeigt sich in einem Interview mit Israels Präsident Isaac Herzog: «In den östlichen arabischen Vierteln Jerusalems leben über 300.000 Palästinenser und Palästinenserinnen. Sie werden nicht als Teil Israels betrachtet, und das zu Recht. Ich denke, wir müssen innovativ und mutig sein und den Menschen die Wahrheit sagen. Ein Teil der Wahrheit ist, dass wir, wenn der Zionismus sich durchsetzen und erfolgreich sein soll, dafür sorgen müssen, dass Gush Etzion und Maaleh Adumim (zwei illegale Siedlungen in Ostjerusalem, Anm.des Autoren) für immer zu Israel gehören. Dies muss durch einen Landtausch mit den Palästinensern erreicht werden. Wenn wir uns auf eine Trennung von den Palästinensern einigen, wird dies ein Sieg für den Zionismus sein. …».  (Zitat aus der Winterausgabe 2014 von fathom). Bisher wurde allerdings niemand freiwillig umgesiedelt. Seit 1967 werden die Menschen mit Gewalt aus Ost- Jerusalem vertrieben, und es ziehen dann jüdische Siedlerfamilien in die Häuser der Vertriebenen.

Auch die Gewalttaten jüdisch-israelischer Siedler in der besetzten Westbank nehmen nicht nur zahlenmässig zu, sondern auch in ihrer Intensität und sogar mit Unterstützung der Regierung Israels. Nachdem jüdisch-israelische Siedler Ende Februar 2023 das Dorf Hawara in der Westbank überfallen und Häuser, in denen noch Erwachsenen und Kinder waren, angezündet hatten, ging «Finanzminister und Kriegsverbrecher Bezalel Smotrich» (Zitat Haaretz, 2. März 2023), in einem Fernsehinterview noch einen Schritt weiter: «Ich denke, das Dorf Hawara sollte ausgelöscht werden, …». Solche Verbrechen der Siedler werden immer öfters auch in Israel als Pogrom bezeichnet. So sagte der Chef des Zentralkommandos der Israelischen Armee Generalmajor Yehuda Fuchs zum Überfall von ca 400 jüdisch-israelischer Siedler auf Hawara in einem Fernsehinterview Ende Februar: "The incident in Hawara was a pogrom". Ein Beispiel wo von der Armee internationales Recht gebrochen worden war, ist der Überfall auf das Flüchtlingslager in Jenin Anfang Juli 2023. UNO-Generalsekretär António Guterres verurteilte dieses Vorgehen und sagte “there was an excessive force used by Israeli forces” und der Vertreter der EU Sven Kuehn von Burgsdorff erklärte der Presse bei einem Besuch in Jenin am 8. Juli: “The military assault on Jenin was painful. What happened is a violation of international law”.

Und was sagt der Bundesrat? Zu den Pogromen in Hawara antwortete Cassis am 12.06.2023 im Ständerat: « … Les incitations à la violence par toutes les parties sont inacceptables. La Suisse appelle toutes les parties à s'abstenir de tout acte de provocation et propos enflammés … ».  Er nimmt eine neutrale Haltung ein, indem er beide Seiten zur Mässigung aufruft. Er handelt wie in einen Konflikt zwischen zwei gleichwertigen Partnern und verkennt nicht nur die massive Asymmetrie des Gewaltpotentials, sondern er hebt Besatzer (Täter) und Besetzte (Opfer) auf die gleiche Stufe. Die Schweiz übersieht den prozesshaften Charakter der stetigen Zermürbung der palästinensischen Bevölkerung durch die Armee und die Siedler. Dieses Vorgehen ist ein wesentlicher Teil des zionistischen Siedlerkolonialismus, der 1948 mit der Nakba im heutigen Israel begonnen hat und in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten (Westbank, Ostjerusalems und Gazastreifen) weitergeht.

Im modernen internationalen Recht ist es im Sinne des Schutzes des humanitären Völkerrechts nicht mehr opportun, dem Aggressor die gleiche Zurückhaltung abzuverlangen wie dem Opfer. Dazu kommt die moralische Verpflichtung zum Handeln, wie es das humanitäre Völkerrecht mit den extraterritorialen Menschenrechtsverpflichtungen vorsieht. Diese normative Dimension geht bei der neutralen Vorgehensweise der Schweiz verloren. Es liegt im Eigeninteresse der Schweiz, dass in der Maxime des rationalen normativen Handelns auch ein moralisches Grundprinzip mitbestimmend ist. Es ist die primäre moralische Verpflichtung zu allem staatlichem Handeln in einer Demokratie, auch in der Aussenpolitik. Sie muss die Neutralität dort übersteuern, wo die universellen Menschenrechte mit Füssen getreten werden, denn sonst bleibt die Schweiz Israels Komplizin beim Begehen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

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*Martin Luzi Büechi, MS, PhD, ehemaliger Delegierter des IKRK, ehemaliger Mitarbeiter bei der UNO und im Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten sowie im Bundesamt für Gesundheit, publiziert seit 2021 auf privater Basis die «Palästina News», eine Zusammenstellung von Nachrichten aus englischsprachigen Quellen zu Israel/Palästina.