Kolumne

Würdeverletzung der Schweiz

von Gret Haller | August 2023


Im Vorfeld eines Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs hat das deutsche Fernsehen ARD über «Europas Machtmaschine» berichtet. Der kleine Film lädt zu weiterführenden Betrachtungen ein, sogar aus dem Blickwinkel der Schweiz. Der Titel lautet: «Der Gipfel. Einblick in Europas Machtmaschine». Und entgegen dem fast martialischen Titel geht es zu Beginn recht leichtfüssig zu und her. Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel lädt am Vorabend des Treffens zu einem Empfang in die Luxemburgische Botschaft in Brüssel ein. Zugesagt hat auch der Belgier Charles Michel, Präsident des «Europäischen Rates», wie der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Union formell korrekt heisst. Eine lockere Stimmung, in welcher der Gastgeber sich auch einmal über sich selber lustig macht, weil er zu Beginn seines Amtes als Minister den Europäischen Rat und den Europarat fast durcheinandergebracht hätte, und dann gebe es da auch noch den Gipfel ... eine Versammlung von alten Männern, wie er anfänglich vermutet habe. Auf Wunsch von Charles Michel zeigt er diesem auf seinem Handy ein Foto von «seinem Mann» – Bettel bekennt sich offen zu seiner Homosexualität.

Dieser Regierungspräsident – er wird im Film noch einige Male auftreten – ist Mitglied der Demokratischen Partei Luxemburgs und führt eine Koalition, der seine eigene liberale Partei, die sozialdemokratische LSAP sowie die Grünen angehören. Sein Land umfasst zweieinhalb Tausend Quadratkilometer, ein Gebiet, das etwas grösser ist als der Kanton St. Gallen und etwas kleiner als der Kanton Tessin. Luxemburg ist mit 660’000 Einwohnerinnen und Einwohnern zehnmal kleiner als die Schweiz. Im Europäischen Parlament profitiert das Land deshalb – zusammen mit Malta und Zypern – von der Mindestvertretungs-Klausel, wonach jedes Land mindestens 6 Sitze besetzen kann. Bei einer rein mathematischen Sitzverteilung nach Bevölkerungszahlen würden solche Kleinststaaten sonst leer ausgehen oder nur einen Sitz beanspruchen können (wie das in der Schweiz für die Vertretung der kleinsten Kantone im Nationalrat geregelt ist). Gemäss der Publikation "Der Beitritt der Schweiz zur EuropäischenUnion"  würden unserem Land nach einem Beitritt voraussichtlich etwa gleich viele Sitze wie Österreich zustehen, also 19 von insgesamt 705 Sitzen.





Auch die Schweiz betreibt eine Mission ...

Der Europäische Rat – kurz meist EU-Gipfel genannt – ist nicht zu verwechseln mit dem Ministerrat (formell «Rat der Europäischen Union»), der in verschiedenen Zusammensetzungen tagt, zum Beispiel einmal als Energieminister-Rat oder ein anderes Mal als Justizminister-Rat. Aber diese Formation hat nicht einen auf mehrere Jahre gewählten Präsidenten wie der Gipfel, sondern die Mitgliedstaaten wechseln sich alle sechs Monate im Präsidium ab. Seit 1. Juli 2023 ist Spanien dran, vorher war es Schweden, und in der ersten Hälfte 2024 wird es Belgien sein. Xavier Bettel nahm als Ministerpräsident Luxemburgs die Rolle der Präsidentschaft des Ministerrates bereits in der zweiten Hälfte 2015 wahr. Damals war der Luxemburger Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission, was dem kleinen Land zu einer beträchtlichen Machtfülle in der Europäischen Union verhalf. Bettel oder seinem Nachfolger als Luxemburgischer Ministerpräsident steht ein erneutes Präsidium des Ministerrates 2029 in Aussicht.

Der Film informiert über Verschiedenes im Hintergrund des Gipfels. Zum Beispiel darüber, wie der Entwurf für eine Abschlusserklärung durch die Botschafterinnen und Botschafter der Mitgliedstaaten vorbereitet wird, auch unter tätiger Mithilfe des Präsidenten Michel. Filmisch gut aufgemacht zeigt eine Luftaufnahme des «Europa-Quartiers» in Brüssel die Standorte der 27 Vertretungen, wobei in Google-Maps-Manier ein Standort nach dem anderen aufleuchtet: So entsteht ein Ensemble von 27 Vertretungen, alle nahe dem Gebäude, in welchem der Gipfel tagt. Natürlich betreibt auch die Schweiz eine Mission in Brüssel. Aber sie erscheint mangels EU-Mitgliedschaft nicht in diesem Reigen der Standorte. Die Schweizer Missionschefin muss sich darauf beschränken, die definitiv verabschiedete Abschlusserklärung nach Bern zu übermitteln, zu kommentieren und aufzuzeigen, welches allenfalls die Konsequenzen für die Schweiz sein werden, die EU-Recht jeweils im sogenannt «autonomen Nachvollzug» übernimmt, damit sie den Zugang zum Binnenmarkt nicht verliert.

27 Länder müssen sich einigen

Der deutsche Botschafter Michael Clauss erläutert, wie die Vorbereitung des Entwurfs für die Abschlusserklärung des Gipfels vor sich geht. Neben dem Luxemburger Bettel kommt die deutsche Vertretung häufig zu Wort, denn der ARD-Film richtet sich natürlich vor allem an ein deutsches Publikum. Clauss äussert sich auch zum Gewicht, das Deutschland in der EU zukommt, schon allein wegen seiner Grösse. Deutschlands Einwohnerzahl ist zehnmal grösser als jene der Schweiz, die Fläche ebenfalls annähernd zehnmal. Auch Charles Michel erläutert, wie er zur Einigung über die Abschlusserklärung beitragen kann. Weltweit gebe es keine vergleichbare Institution wie den Europäischen Rat, in welchem sich 27 Länder auf eine gemeinsame Linie einigen müssten. Dass es sich dabei um individuelle Menschen handelt, betont die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, welche an den Ratssitzungen ebenfalls teilnimmt. Sie betont, wie Verständigung eben auch dadurch vorangebracht werden könne, dass ein Ratsmitglied die Lage in seinem Land darstellt und damit begründet, warum dieses in einer bestimmten Frage nicht zu weit mitgehen könne. Und das ist wichtig, weil die Erklärung nur einstimmig verabschiedete Positionen enthalten kann.

Aber all dies ist nur möglich bei grösster Vertraulichkeit und Diskretion. Über die Verhandlungen am Gipfel darf nichts nach aussen dringen. Präsent sind nur die 27 Staats- und Regierungschefs, der Ratspräsident und die Kommissionspräsidentin. Unzählige Medienvertreter versuchen dennoch, da und dort etwas zu erfahren, zum Beispiel einen Ausspruch von einem Ratsmitglied, das den Verhandlungsraum kurz verlässt. Die Presseleute kommen im Film ausgiebig zu Wort, und es ist der begeisterte Ausspruch eines Journalisten über den Belgischen Premier Alexander De Croo, der an die Schweiz erinnern kann: «Schau dir den Belgier an, der spricht, Niederländisch, Französisch, Englisch! Das ist Europa, switchen von einer Sprache zur anderen!» So erfährt man auch ganz sympathische Alltäglichkeiten, nicht zuletzt darüber, wie in nächtelangen Sitzungen für die kulinarische Befindlichkeit der Teilnehmenden gesorgt wird, um die Verständigung möglichst nicht zu behindern. Nein, «Vorkoster» gebe es keine, das sei heute nicht mehr aktuell. Aber man müsse schon dafür sorgen, dass niemand vergiftet werde.

«Langwierige, schwierige Kompromissmaschine»

Sehr alltagspraktisch wird es dann aber beim Umbau des Saales, der vor jedem Gipfel vorgenommen wird. Das ist unumgänglich, weil derselbe Saal drei verschiedenen Gremien dient: Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs findet mindestens viermal im Jahr statt, der Ministerrat in seinen verschiedenen Zusammensetzungen in unterschiedlichen Abständen, die wichtigsten etwa monatlich, und die in Brüssel residierenden Botschafter treffen sich im selben Saal mehrmals pro Woche. Die Minister wie auch die Botschafter lassen sich von Mitarbeitenden begleiten, welche hinter ihnen sitzen und sie beraten. Nicht so beim Gipfel. Da gibt es nur die 27 Sessel in der vordersten Reihe, nebst einigen für das Präsidium, aber keine dahinterliegenden Pulte mehr.

Mit der nötigen Dramatik folgt der Film nun dem Geschehen: Eintreffen der Ratsmitglieder, gegenseitige Begrüssungen neben und hinter den Sesseln. Im geschlossenen und sonst leeren Oval vor den Pulten unzählige Journalistinnen und Journalisten, die letzte Auskünfte zu erhaschen suchen. Dann die Glocke des Vorsitzenden, Bitte an die Medienleute, den Saal zu verlassen. Ein letzter Blick durch die noch geöffnete Türe auf die 27 Länderchefs, die nun alle Platz genommen haben. Und dann schliesst sich die Türe, ein Moment von gleichsam ritueller Bedeutung, weil er das ermöglicht, was nur unter der Bedingung der geschlossenen Türe erreicht werden kann. Der Kommentar der Filmemacherinnen und Filmemacher dazu: «... oft grosses Theater, meist eine langwierige, schwierige Kompromissmaschine, aber was wäre Europa ohne ... ?» Die Frage geht nochmals an Xavier Bettel, der 80 Jahre zurückschaut und das Schlachtfeld erwähnt. Der Europa-Rechtler Franz C. Mayer hat diesen Vergleich treffend zusammengefasst: «Wo frühere Generationen auf die Schlachtfelder geschickt wurden, ringen heute bis zum Morgengrauen Staats- und Regierungschefs in fensterlosen Konferenzräumen bei Kunstlicht miteinander ..."*

Verletzung der eigenen Würde

Der rituelle Moment der sich schliessenden Türe kann politisch aber auch grundsätzlicher gedeutet werden. Von innen gesehen ist die geschlossene Türe ein Schutz zur Ermöglichung Europäischer Verständigung. Von aussen gesehen bedeutet die geschlossene Türe Ausschluss vom politischen Geschehen: Wer dort keinen Sessel hat, kann keinen Einfluss nehmen. Und doch ist längst klar, dass die politische Zukunft Europas genau hier ausgehandelt wird, im Saal des Gipfels in Brüssel. Kein europäisches Land hat heute sein Schicksal allein in der Hand, auch Deutschland und Frankreich nicht mehr. Wirtschaftspolitisch ist das schon lange so, aber auch geopolitisch muss sich Europa heute zwischen den beiden Polen China und den Vereinigten Staaten neu positionieren, ganz zu schweigen vom Ukraine-Krieg, der nochmals eine neue Dimension in diese Positionierung gebracht hat.

Für die Schweiz kommt der selbstgewählte Verzicht auf politische Mitgestaltung der Europäischen Union einer Verletzung der eigenen Würde gleich. Dieses Land, das 1848 als älteste Republik in Europa gegründet worden ist, verspottet mit dem Abseitsstehen von der Mitgestaltung der Union auch die Würde seiner Bürgerinnen und Bürger, welche innerstaatlich vertraut sind mit alltäglich gelebter politischer Mitwirkung. Der EU-Beitritt sei nicht mehrheitsfähig, plappert einer dem anderen nach. Wenn ein Institut für Meinungsumfragen das Thema zum Gegenstand einer Umfrage macht und dies als deren Resultat veröffentlicht, dann ist es korrekt. Aber Politik basiert nicht auf Meinungsumfragen. Politik heisst nicht, den nassen Finger in die Luft zu strecken um herauszufinden, woher der Wind bläst. Politik bedeutet, sich selber eine Meinung zu bilden, was für ein Land gut ist und was nicht, und dann zu den Leuten zu gehen und sie davon zu überzeugen versuchen.

Was also tun mit der Feststellung, dass der Verzicht auf Mitsprache in der EU die republikanische Würde dieses Landes verletzt? Die Sache muss aus dem Modus des Nachplapperns befreit und damit politisiert werden. Politik bedeutet, mit anderen über dieses Thema zu reden und zu erklären, warum der heutige Zustand eine Würdeverletzung der Schweiz bedeutet. Vielleicht haben andere ja ähnliche Empfindungen. Und jene, die diese Empfindungen nicht haben, können immerhin darauf hingewiesen werden, dass die Sache auch so gesehen werden könnte, eben als Würdeverletzung dieses stolzen republikanischen Landes. Jedenfalls ist es auch hierzulande nützlich, diesen kleinen Film anzusehen, nicht nur weil man daraus allerhand lernen kann, sondern vor allem, weil er auch amüsant ist!

* Franz C. Mayer: Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft – ein überholtes Narrativ? Baden-Baden 2019, S. 123.

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Gret Haller ist Ehrenpräsidentin der SGA-ASPE.