Lesetipp

1815 – Unabhängig dank fremder Hilfe

von Christoph Wehrli | Februar 2016
Am Wiener Kongress anerkannten die grossen Mächte die Unabhängigkeit und die Neutralität der Schweiz. Eine Gedenkpublikation beleuchtet die günstigen Umstände und die Schwäche der Eidgenossenschaft.

Im vergangenen Mehrfach-Gedenkjahr (zu 1315, 1415, 1515 und 1815) weckte besonders die Schlacht von Marignano mehr Emotionen und Debatten als der Wiener Kongress, obwohl sich in beiden Fällen die Stellung der Eidgenossenschaft in Europa als Thema einer politisch interessierten Geschichtsbetrachtung anbieten mag. Die nun in Buchform publizierten Vorträge einer Tagung, die der Zürcher Regierungsrat veranstaltet hatte, lassen zwar keine fundamental gegensätzlichen Interpretationen, wohl aber eine unterschiedliche Gewichtung der «nationalen» und der internationalen Faktoren erkennen, die 1815 einen föderativen Neubeginn der Schweiz ermöglicht haben.

Nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich – dies legt Julia Angster (Mannheim) dar – etablierten Russland, Preussen, Österreich und Grossbritannien im Sinn eines britischen Konzepts eine Friedensordnung ohne Hegemonie. Sie beruhte auf Versöhnung und bezog Frankreich ein, ging über eine Gleichgewichtspolitik hinaus und schuf mit einem Konsultationsmechanismus (namentlich in Form von Folgekonferenzen) erstmals Ansätze zu einer kollektiven Sicherheit. Eine neutrale Schweiz, schreibt Paul Widmer, passte eigentlich nicht in dieses System. War die Anerkennung des «selbstgewählten» Status also ein umso erstaunlicherer «Erfolg»? Oder waren Eigenständigkeit und Neutralität auch, in nicht unwesentlichem Mass, «fremdbestimmt», wie Moritz Leuenberger betont?

Das «corps helvétique», wie es die europäischen Diplomaten nannten, war ein wenig handlungsfähiges Gebilde und nach Worten seines Delegierten in Wien sogar der Gefahr eines Bürgerkriegs ausgesetzt. Bern und andere Stände strebten nach einer Wiederherstellung der 1798 aufgehobenen Untertanenverhältnisse, wogegen sich die sechs neuen (1803 gleichgestellten) Kantone natürlich wehrten. Ausserdem wurden unterschiedliche territoriale Ansprüche, auch in der Nachbarschaft, erhoben. Im Bundesvertrag, den die Eidgenossen unter geradezu ultimativem Druck der Mächte doch noch schlossen, rangen sie sich zur Anerkennung der Realitäten durch und nahmen zudem drei neue Glieder auf (das Wallis, Neuenburg und Genf). Als souverän wurden im Vertrag die Kantone, nicht aber die Schweiz bezeichnet. Auf dieser Grundlage fand dann ein spezielles Komitee der Mächte in Wien zu einer Regelung der völkerrechtlichen Belange – den Weg zeichnet der Mitherausgeber Daniel Brühlmeier im Einzelnen nach.

Das übergeordnete Ziel der grossen Monarchien war es offenkundig, Unruhe zu vermeiden; die von den Schweizern gewünschte Neutralität schien akzeptabel, um die «Stillstellung des Landes» (Jakob Tanner) zu erreichen. Österreich hätte sich zwar mehr Kontrolle gewünscht, stiess aber auf die energische Opposition Russlands, dessen Zar Alexander I. mit dem Waadtländer Frédéric-César de La Harpe, seinem einstigen Erzieher, freundschaftlich verbunden war und starke Sympathien zur Schweiz hegte. Davon, dass sich im 19. Jahrhundert wohl kein anderer Staatsmann «um die Zukunft der Schweiz mehr Verdienste erworben hat», sei im heutigen Selbstverständnis des Landes nichts mehr übriggeblieben, schreibt Andreas Kley.

Die Anerkennung der Neutralität hielt die Mächte übrigens nicht davon ab, nach der Rückkehr Napoleons an die Macht die Schweiz sogleich zur Beteiligung an der gegnerischen Allianz zu drängen und Truppen durch das Land ziehen zu lassen. Und das eidgenössische Heer brach nach der Abdankung Napoleons zu einem Feldzug ins Burgund auf. Das dürfte den «immerwährenden» Charakter der damaligen Neutralität und relativiert die heutigen dogmatischen Diskussionen.

Und Zürich, das im Titel des Buches steht? Es war zufrieden damit, dass weder das Veltlin noch Konstanz zur Eidgenossenschaft geschlagen wurden, wodurch sich das konfessionelle Kräfteverhältnis verschoben hätte. Bürgermeister Hans von Reinhard verhielt sich als Delegationsleiter in Wien pragmatisch. Markus Brühlmeier übernimmt in seinem Beitrag negative Urteile früherer Historiker nicht und hält fest, dass der konservative Aristokrat letztlich zur Modernisierung der Schweiz beitrug. – Dies ist eine der paradoxen und komplexen Entwicklungen, in die das Bändchen gute Einblicke gibt.

Regierungsrat des Kantons Zürich, Daniel Brühlmeier (Hg.): Zürich und der Wiener Kongress. Erklärung über die Angelegenheiten der Schweiz vom 20. März 1815. Chronos-Verlag, Zürich 2015. 141 S., Fr. 28-.