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Ab wann wird Neutralität unanständig?

von Tim Guldimann | September 2023
Der russische Angriffskrieg hat eine grundsätzliche Neutralitätsdiskussion provoziert. Das veränderte sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz verlangt ein radikales Umdenken unserer Außenpolitik insbesondere bezüglich der Neutralität. Aber der innenpolitische Konsens dazu fehlt, während wir außenpolitisch unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Eigentlich sollte die Neutralität allein ein Instrument zur Wahrung nationaler Interessen sein. Aber tatsächlich ist sie viel mehr. Sie erfreut sich nach wie vor einer Zustimmung von 90 Prozent. Sie  gehört zur nationalen DNA und damit zum Eingemachten. Meine folgende Position in der laufenden Diskussion ist wohl nicht mehrheitsfähig, nur eine Aufforderung zum Umdenken.

Am WEF in Davos verkündete Bundesrat Cassis: „Der staatspolitische Zwilling unserer Neutralität war und ist die Solidarität“, und Bundespräsident Berset behauptete kühn, die schweizerische Neutralität sei in Davos „gut verstanden worden“. Dabei äußerten am gleichen Anlasse eine ganze Reihe führender internationaler PolitikerInnen unter anderen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, Nato-Generalsekretär Stoltenberg, der deutsche Vizekanzler Habeck, explizite Kritik an der schweizerischen Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern. Zu Recht stellte Gerhard Pfister, Parteipräsident der Mitte, die Frage: «Ab wann wird Neutralität unanständig?“

Der neue Widerspruch zwischen Neutralität und Solidarität

Das westliche Ausland fordert von der Schweiz Solidarität im Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Aber die eingeforderte Solidarität wird verweigert. Der Bundesrat wies zahlreiche Anfragen europäischer Regierungen zurück, indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine in Form der Wiederausfuhr von Kriegsmaterial zuzulassen. Die Begründung ist die Neutralität, konkret das auf der Haager Landkriegsordnung von 1907 beruhende Neutralitätsrecht, das zur Gleichbehandlung der Konfliktparteien verpflichtet. Eine Änderung des Kriegsmaterialgesetzes haben Bundesrat und Parlament abgelehnt, weil damit  die Gleichbehandlung verletzt würde. Der Bundesrat hat diese Position am 10. März 2023 bekräftigt. Das zentrale Argument dabei ist: „Wir dürfen nicht“.

Der Widerspruch zwischen unserer Neutralität und der vom Ausland geforderten Solidarität wird in der Debatte ebenso ausgeblendet wie unsere eigentlichen Sicherheitsinteressen. Diese sind nur im europäischen Kontext zu verstehen. Der Krieg hat diesen Kontext, das heisst die europäische Sicherheitsarchitektur, die seit dem Kalten Krieg auf dem allseitig anerkannten Prinzip der Unverletzbarkeit der Grenzen souveräner Staaten beruhte, in ihren Grundfesten erschüttert. Der Angriff zielt nicht nur auf die Ukraine, Putin spricht nicht nur dem Land das Existenzrecht als souveräner Staat ab. Sein Krieg richtet sich zunehmend auch gegen den Westen, gegen Europa, gegen unsere gemeinsamen Werte und damit gegen die Grundlagen unserer politischen Identität.

In dieser Radikalität hat uns die Zeitenwende eine neue Europakarte beschert, auf der wir uns neu verorten müssten. Aber genau das widerstrebt uns. Die  neuen Gefahren lassen nur den alten Igel hochleben. Patriotische Kreise versuchen, die Neutralität mit einer Verfassungsinitiative noch zu verschärfen. Die Angst vor dem Ausgang dieser Abstimmung lähmt zusätzlich die Diskussion. Dabei gäbe es innerhalb der heutigen Neutralitätsdoktrin durchaus einen Weg, die Gleichbehandlung dadurch zu garantieren, dass durch eine Gesetzesänderung für den gesamten Waffenexport an alle Länder die Wiederausfuhr - zum Beispiel nach fünf Jahren - freigegeben wird. Aber das wäre für die friedenspolitische Linke nicht akzeptabel. Der Schulterschluss von links und rechts verhindert eine innenpolitische Mehrheit für einen solchen Entscheid.

Alle sind für die Neutralität

 Für die grosse Mehrheit im Land liegt die Neutralität im nationalen Interesse. Selbst wenn die  Zustimmung seit Kriegsausbruch in der Ukraine leicht zurückging, sind rund 90 Prozent der Bevölkerung für die Neutralität, Historisch gibt es für sie gute Argumente. Im Ersten Weltkrieg hatte sie eine grosse Bedeutung für den nationalen Zusammenhalt des Landes. Bis heute ist sie ein Hauptmerkmal unseres internationalen Profils, von dem wir auch wirtschaftlich profitieren.

Im Zusammenhang mit der Neutralität stehen auch die guten Dienste der Schweiz. Sie verschaffen uns ausländische Anerkennung,  Dass man als Staat aber auch ohne Neutralität sehr erfolgreich vermitteln kann, zeigt das Nato-Mitglied Norwegen.

Die guten Dienste und die humanitäre Tradition samt der Neutralität des Roten Kreuzes werden als Argumente aufgeführt, dass die Neutralität der Schweiz auch im internationalen Interesse sei. Historisch stimmt das, denn die Neutralität hat sich im gegenseitigen Interesse der europäischen Mächte und der Schweiz herausgebildet. Seit längerer Zeit lässt sich aber - abgesehen vom russischen Interesse an der schweizerischen Nicht-Mitgliedschaft in der NATO - kein europäisches Interesse mehr und schon gar kein amerikanisches Interesse nachweisen.

Der Grundlagenirrtum der Neutralitätsdebatte

Das Argument, „wir dürfen nicht“, ist falsch und hier liegt der Grundlagenirrtum unserer Neutralitätsdiskussion: Es gibt keine völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz, ihre Neutralität aufrechtzuerhalten. Wir sind souverän. Wenn wir wollen, können wir sie jederzeit abschaffen oder neu definieren.

Neutralitätsrechtliche Pflichten können lediglich von unserer souveränen Entscheidung abgeleitet werden, dass wir uns einmal für neutral erklärt haben, und zwar „immerwährend“ in dem Sinne, dass sich das nicht nur auf den Moment der Erklärung bezieht, sondern auch auf die Zukunft. 1910 ist die Schweiz dem “Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs” von 1907 beigetreten.

Dieser Beitritt bedeutet aber lediglich, dass dieses Abkommen nur gilt, solange wir uns für neutral erklären. Es steht uns jederzeit frei, unsere Neutralität neu zu definieren. Wir können allen Vertragspartnern der Haager Landkriegsordnung oder besser der ganzen Staatengemeinschaft notifizieren, dass wir uns im Falle eines völkerrechtswidrigen Angriffs gegen einen europäischen Staat nicht mehr verpflichtet fühlen, uns an die militärische Gleichbehandlung der Konfliktparteien zu halten. Ob wir das dann wollen oder nicht, ist nur noch ein politischer Entscheid. Wir kündigen dabei nicht unsere Mitgliedschaft in der Haager Landkriegsordnung auf, die Schweiz anerkennt dann nach wie vor die generelle Neutralitätsdefinition im Abkommen. Diese ist dann aber für uns nicht mehr verpflichtend im Falle eines völkerrechtswidrigen Angriffs auf einen europäischen Staat. Der Schritt ist heute innenpolitisch zwar kaum konsensfähig, rechtlich aber absolut zulässig.

Die Neutralität in der Verfassung

Oft wird argumentiert, die Verfassung verpflichte uns zur Neutralität. Auch das ist falsch. Bei der Gründung des modernen Bundesstaates hat die Tagsatzung 1847 bewusst darauf verzichtet, im Zweckartikel der Bundesverfassung die Neutralität festzuschreiben. Art 173 und Art 185 legen mit gleichem Wortlaut lediglich Zuständigkeiten fest: „Die Bundesversammlung (..) trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.“ (Art 173) und Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz“ (Art 185). Ähnlich definiert die Verfassung auch die Zuständigkeit des Bundes für die Luftfahrt und die AKWs. Diese könnten getrost abgeschafft werden, ohne die Verfassung zu ändern. Die Neutralität steht deshalb auch nicht im Art. 54, Abs.2, wo die Ziele der Außenpolitik stehen. Folgerichtig möchte Christoph Blocher mit seiner Initiative die Neutralität hier mit einem neuen Zweckartikel (Art. 54a) verschärfen und festnageln, und nicht dort, wo die Zuständigkeiten geregelt sind.

Was wollen wir?

Wenn wir somit als souveräner Staat frei sind, zu entscheiden, was wir wollen, stellt sich die zentrale Frage, was unsere Interessen sind. Also die Frage, ob es in der Abwägung aller Vor- und Nachteile in unserem Interesse liegt, die heutige Position zur Neutralitätsdefinition der Haager Landkriegsordnung im oben dargestellten Sinne abzuändern. In der laufenden Debatte wird argumentiert, dieser Vertrag sei schon lange überholt und eine Änderung unserer Position verlange keine völkerrechtliche Klärung. Gegenüber solchen Gegenargumenten ist es aber politisch notwendig, streng juristisch zu argumentieren.

Eine Revision der Neutralitätsdoktrin, wie oben vorgeschlagen, erweitert den sicherheitspolitischen Handlungsspielraum und schafft Flexibilität, auf die wir im nationalen Interesse künftig noch mehr als heute angewiesen sein dürften. Finnland und Schweden haben angesichts des Krieges in der Ukraine ihre sicherheitspolitische Position radikal geändert und sind daran, Mitglieder der NATO zu werden. Für die Schweiz liegt meines Erachtens ein NATO-Beitritt nicht – vielleicht noch nicht - im nationalen Interesse. Wir würden uns zu sehr von der amerikanischen Sicherheitspolitik abhängig machen. In unserem Interesse liegt es aber, die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der NATO bis an die Grenzen des innenpolitischen Konsenses auszudehnen, um unseren Betrag zur gemeinsamen europäischen Sicherheit zu leisten. Gleichzeitig wäre es wichtig, dass wir uns aktiv an den Diskussionen über eine eigenständige europäische Verteidigung beteiligen, zumal das amerikanische Engagement für die europäische Sicherheit in den nächsten Jahren jäh in Frage gestellt werden könnte.

Die prekäre Glaubwürdigkeit in Osteuropa wird unsere EU-Politik belasten

Was wir in dieser ganzen Diskussion ausblenden, ist der Zusammenhang unserer sehr beschränkten Solidarität mit der Ukraine mit unserer Glaubwürdigkeit in Osteuropa. Die osteuropäischen Mitgliedstaaten leisten innerhalb der EU proportional die weitaus größte Hilfe an die Ukraine. Der Krieg hat auch zu einer politischen Gewichtsverlagerung innerhalb der EU geführt, die den Einfluss der Region auf Brüssel erhöht. Ihr Blick auf die Rolle der Schweiz in der Rüstungs- und Sanktionsfrage könnte uns dann noch Probleme schaffen, wenn es darum geht, eine neue vertragliche Grundlage unserer Beziehungen mit der EU auch von diesen Staaten im EU-Ministerrat absegnen zu lassen.

Wir leben in einer Welt, die wie nie zuvor gleichzeitig mit riesigen, sich verschärfenden Krisen und Gefahren konfrontiert ist: der Klimawandel, die weltweit 100 Millionen Geflüchteten, eine noch nicht ausgestandene Pandemie, die fragilen Finanzmärkte – ganz abgesehen von der Gefahr eines noch eskalierenden Krieges in Europa und die wachsenden Spannungen mit China. Solidarität ist nicht eine Frage der Nächstenliebe, sondern der nationalen Interessen, die wir nur mit der Glaubwürdigkeit unserer Politik und dem Vertrauen unserer europäischen und transatlantischen Partner erfolgreich verfolgen können. Auf die Zusammenarbeit mit diesen Partnern sind wir angewiesen, wenn einmal die Probleme jäh auf uns selbst hereinbrechen sollten. Alleingänge sind keine erfolgversprechende Alternative.

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Eine längere Version dieses Artikel wurde in der Publikation Stratos des VBS veröffentlicht.

Tim Guldimann lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bern, war Schweizer Botschafter in Iran und in Deutschland und produziert den Podcast «Debatte zu Dritt» zu politischen und gesellschaftlichen Themen – jeweils mit einer Frau und einem Mann.