Atomare Rüstung ohne politische Regeln

von Christoph Wehrli | Februar 2020
Oliver Thränert, Experte für Sicherheitspolitik, hat in der Aussenpolitischen Aula ein fast vergessenes Thema in Erinnerung gerufen: Das System zur Verhinderung eines Atomkriegs hat sich weitgehend aufgelöst. Neue Nuklearmächte und neue Technologien verlangen für die Rüstungskontrolle neue Ansätze, wie sie noch kaum in Sicht sind.

Nostalgie nach dem Kalten Krieg ist gewiss nicht angebracht. Aber die Gefahr eines Atomkriegs war damals allgemein bewusst, und die beiden Supermächte fanden gemeinsam Wege, einen die Menschheit als Ganzes bedrohenden Waffeneinsatz zu vermeiden. «Die nukleare Welt ist ausser (Rüstungs-)Kontrolle», betitelten demgegenüber die SGA und Avenir Suisse ihre Veranstaltung an der Universität Bern.  Über die besorgniserregende Entwicklung sprach Oliver Thränert, Leiter des Think Tank am Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH Zürich.

Die Angst des Gegners mitbedenken

Seit den 1950er Jahren befürchteten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, der Gegner könnte in einem Konflikt einen Überraschungsangriff mit vernichtender Wirkung führen. Sie bauten daher eine Zweitschlagskapazität auf, also die Fähigkeit, auf einen Angriff ebenso zerstörerisch zu reagieren, was einen Erstschlag unattraktiv machen sollte. Über dieses «Gleichgewicht des Schreckens» hinaus suchten die USA einen politischen Ansatz, um Stabilität zu sichern. Da auch die Verantwortlichen in Moskau zur Erkenntnis gelangten, dass es in einem Atomkrieg keinen Sieger gäbe, bauten die beiden Supermächte gemeinsam ein System der Rüstungskontrolle oder -steuerung auf. Als dessen Kern bezeichnete Thränert «die revolutionäre Einsicht, wonach die Sicherheit des Gegners im wohlverstandenen eigenen Interesse immer mitgedacht werden muss».

Durch lange Verhandlungen wurde einiges erreicht: Der ABM-Vertrag von 1972 begrenzte die Raketenabwehr - die «gegenseitig gesicherte Verwundbarkeit» reduziert paradoxerweise die Kriegsgefahr, weil sie auf beiden Seiten die Angst vor einem Angriff und den Druck zu einem Präventivschlag vermindert. Hinzu kamen die Plafonierung oder Verminderung von Offensivwaffen sowie das Verbot von Mittelstreckenraketen im INF-Abkommen von 1987. Der ständige Dialog der Supermächte und die Überwachungstätigkeiten trugen ihrerseits dazu bei, dass Transparenz und Vertrauen wuchsen.

Neue Mächte einbeziehen

Nach der Jahrtausendwende geriet die Rüstungskontrolle in eine Krise; Thränert sprach sogar von einer Dekonstruktion. Sie begann mit der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags im Dezember 2001 und endete bisher 2019 mit dem Rücktritt der USA vom INF-Vertrag, den Russland über Jahre verletzt hatte, um seine politische und militärische Position gegenüber der Nato zu stärken. Insgesamt – so sei Thränerts Analyse zusammengefasst - erklären sich diese Schritte durch eine neue Situation, in der sich das Prinzip der Parität nicht mehr wie einst zwischen den beiden dominanten Mächten anwenden lässt. Neue nuklear bewaffnete Akteure gewinnen an Gewicht. China entwickelt sein Arsenal quantitativ und qualitativ weiter, Indien baut ein Instrumentarium von land-, luft- und seegestützten Waffen auf, und am schnellsten ist die nukleare Aufrüstung in Pakistan. Nordkorea ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor, zumal es als unberechenbar gilt. Namentlich die USA haben das Bedürfnis, sich und ihre Alliierten gegen solche Mächte zu schützen; dies widerspricht aber der Begrenzung der Abwehr gegen Russland. Komplexer werden die Risiken zudem durch neue nichtnukleare Instrumente wie Cyber-Techniken und möglicherweise Waffen gegen Kommunikationssatelliten. Vor allem Russland denkt an eine Kombination von modernen Präzisionswaffen und nuklearen Mitteln, und die USA planen Systeme für rasche «Schläge» auf der ganzen Welt.

Die neueren Atomstaaten müssten nach Thränerts Meinung in die Rüstungskontrolle einbezogen werden. Dazu scheinen die «alten» Mächte allerdings nicht bereit, und Rivalitäten im Dreieck China – Indien – Pakistan machen die Sache nicht einfacher. Es gelte, «die Rüstungskontrolle neu zu denken», sagte der Experte, der mit Fachkollegen zusammen nach solchen Wegen sucht. Es empfehle sich, die Methoden auszuschöpfen, über die traditionellen Verträge hinauszugehen, einseitige Zurückhaltung, Transparenz und Vertrauensbildung mehr zum Tragen kommen zu lassen. Positiv vermerkte Thränert in der Diskussion das Interesse des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für das Problem. Für die Schweiz sieht er momentan keine Rolle, für einen Brückenbau fehlten die Pfeiler. Die radikale Lösung eines Atomwaffenverbots, das auch effektiv überwacht würde, hält er für unrealistisch - das entsprechende Uno-Abkommen ist von der Schweiz bisher nicht ratifiziert worden.

Eine Lage also, die keine Zuversicht aufkommen lässt, aber umso weniger aus dem Bewusstsein verdrängt werden sollte.