Lesetipp
Blinder Passagier der Nato
von
SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder
| Januar 2021
Gegen Tabus zu verstossen, verspricht der Autor der Publikation «Sicherheit und Verteidigung der Schweiz», SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez. Was er vorlegt, ist anregender Diskussionsstoff.
«Tabus brechen, Lösungen wagen», lautet der Untertitel der Broschüre aus der Feder eines der nicht allzu dicht gesäten SP-Verteidigungspolitiker, des Jurassiers Pierre-Alain Fridez, Nationalrat seit 2011 und seither ununterbrochen Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission der grossen Kammer. Die zunächst auf Französisch publizierte Schrift liegt nun in deutscher Übersetzung vor.
Worin besteht der Tabubruch? In der Analyse denkbarer, plausibler Bedrohungsszenarien? In den Folgerungen bezüglich der Rüstungsprioritäten? In der Einschätzung der Proportionen zwischen militärischen Mitteln auf der einen Seite und zivilen Ressourcen und Friedenförderung auf der anderen? In der Bewertung der Neutralität, die Fridez zwar als «Nationalmythos» bezeichnet, an der er aber in Form «aktiver Neutralität» festhalten will? Es wäre kein gutes Zeichen für den schweizerischen Diskurs über Sicherheit und Verteidigung, wären diese Fragen tabuisiert.
Fridez präsentiert uns, kaum überraschend, eine sozialdemokratische Lesart von Sicherheitspolitik. Der Autor geht von einer breiten Risikopalette aus. Sie schliesst selbstverständlich militärische Bedrohungen ein. Breiteren Raum gibt der Autor aber den Risiken Terrorismus, Cyberattacken, Klima- und Umweltveränderungen, der Verletzlichkeit kritischer Infrastrukturen und nicht zuletzt der Bedrohung durch Pandemien. Nicht anders als der Bundesrat erachtet der Autor die Gefahr eines konventionellen Krieges mitten in Europa auf absehbare Zeit für verschwindend gering. Er zieht daraus den Schluss, es sei unsinnig, ein Massenheer zu unterhalten. Stattdessen plädiert er für wesentlich mehr Anstrengungen in Bereichen wie Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz.
«Unser Land wird faktisch durch einen Kontinent geschützt, der seine Verteidigung gemeinsam und solidarisch organisiert hat – wir sind objektiv gesehen ein blinder Passagier der NATO.» Es mache heute keinen Sinn mehr, folgert der Autor, eine Armee massiv mit konventionellen Waffen auszurüsten, um für einen traditionellen Konflikt gegen einen Nachbarstaat oder potenziellen Angreifer gewappnet zu sein. Statt einen Krieg «wir allein gegen die ganze Welt» vorzubereiten, sollen mehr Mittel dort eingesetzt werden, wo es sie braucht: bei Polizei, Grenzwachtkorps, Nachrichtendienst, Zivilschutz, Zivildienst, für Friedensförderung, humanitäre Hilfe und internationale Zusammenarbeit sowie bei den Genfer Zentren für Frieden und Sicherheit.
Verteidigungsbudget der Bedrohungslage anpassen
Folgerichtig plädiert SP-Sicherheitspolitiker Fridez dafür, das Verteidigungsbudget im Lichte der effektiven Bedrohungslage umzuschichten und «freigespielte» Mittel unter anderem für militärische Friedensförderung im Ausland und polizeiliche Aufgaben im Innern zu investieren. Und er wünscht sich, dass en passant ausreichend Mittel freigesetzt werden können, um das entwicklungspolitische Engagement im Einklang mit den UNO-Zielen der Agenda 2030 zu erhöhen.
Am dichtesten ist Fridez’ Gedankenführung, wo es ihm darum geht darzutun, die Schweiz brauche keine teuren Hochleistungskampfjets. Der Autor stützt sich dabei auf ein amerikanisches Gutachten, das empfiehlt, in die bodengestützte Luftraumverteidigung zu investieren statt in Superjets, die für die Defensive ungeeignet sind und für die Offensive nicht gebraucht werden. Das verspätete Plädoyer zur Abstimmung vom vergangenen 27. September behält damit volle Aktualität.
Als Lücke mag man empfinden, dass der Autor nicht auf die Herausforderung durch autonome, mittels künstlicher Intelligenz gesteuerte Kampfroboter am Boden und in der Luft eingeht, um die zurzeit an der UNO-Abrüstungskonferenz in Genf intensiv gerungen wird.
Man braucht mit dem Autor nicht überall einig zu gehen, um den Diskussionsbeitrag willkommen zu heissen. Fridez, Hausarzt von Beruf, ist kein Illusionist, sondern ein helvetisch geerdeter Milizpolitiker. Er inventarisiert unspektakulär, was ist und was nach menschlichem Ermessen sein könnte. Insider werden in seiner Auslegeordnung vor allem Vertrautes finden. Wer sich für Sicherheitspolitik an der Schnittstelle zwischen militärischer Verteidigung und Aussenpolitik interessiert, findet hier Anregung.
Pierre-Alain Fridez, Sicherheit und Verteidigung der Schweiz, Tabus brechen, Lösungen wagen, übersetzt aus dem Französischen von Peter Hug, Ed. Favre, Lausanne 2020, 192 Seiten, CHF 11.50.
«Tabus brechen, Lösungen wagen», lautet der Untertitel der Broschüre aus der Feder eines der nicht allzu dicht gesäten SP-Verteidigungspolitiker, des Jurassiers Pierre-Alain Fridez, Nationalrat seit 2011 und seither ununterbrochen Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission der grossen Kammer. Die zunächst auf Französisch publizierte Schrift liegt nun in deutscher Übersetzung vor.
Worin besteht der Tabubruch? In der Analyse denkbarer, plausibler Bedrohungsszenarien? In den Folgerungen bezüglich der Rüstungsprioritäten? In der Einschätzung der Proportionen zwischen militärischen Mitteln auf der einen Seite und zivilen Ressourcen und Friedenförderung auf der anderen? In der Bewertung der Neutralität, die Fridez zwar als «Nationalmythos» bezeichnet, an der er aber in Form «aktiver Neutralität» festhalten will? Es wäre kein gutes Zeichen für den schweizerischen Diskurs über Sicherheit und Verteidigung, wären diese Fragen tabuisiert.
Fridez präsentiert uns, kaum überraschend, eine sozialdemokratische Lesart von Sicherheitspolitik. Der Autor geht von einer breiten Risikopalette aus. Sie schliesst selbstverständlich militärische Bedrohungen ein. Breiteren Raum gibt der Autor aber den Risiken Terrorismus, Cyberattacken, Klima- und Umweltveränderungen, der Verletzlichkeit kritischer Infrastrukturen und nicht zuletzt der Bedrohung durch Pandemien. Nicht anders als der Bundesrat erachtet der Autor die Gefahr eines konventionellen Krieges mitten in Europa auf absehbare Zeit für verschwindend gering. Er zieht daraus den Schluss, es sei unsinnig, ein Massenheer zu unterhalten. Stattdessen plädiert er für wesentlich mehr Anstrengungen in Bereichen wie Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz.
«Unser Land wird faktisch durch einen Kontinent geschützt, der seine Verteidigung gemeinsam und solidarisch organisiert hat – wir sind objektiv gesehen ein blinder Passagier der NATO.» Es mache heute keinen Sinn mehr, folgert der Autor, eine Armee massiv mit konventionellen Waffen auszurüsten, um für einen traditionellen Konflikt gegen einen Nachbarstaat oder potenziellen Angreifer gewappnet zu sein. Statt einen Krieg «wir allein gegen die ganze Welt» vorzubereiten, sollen mehr Mittel dort eingesetzt werden, wo es sie braucht: bei Polizei, Grenzwachtkorps, Nachrichtendienst, Zivilschutz, Zivildienst, für Friedensförderung, humanitäre Hilfe und internationale Zusammenarbeit sowie bei den Genfer Zentren für Frieden und Sicherheit.
Verteidigungsbudget der Bedrohungslage anpassen
Folgerichtig plädiert SP-Sicherheitspolitiker Fridez dafür, das Verteidigungsbudget im Lichte der effektiven Bedrohungslage umzuschichten und «freigespielte» Mittel unter anderem für militärische Friedensförderung im Ausland und polizeiliche Aufgaben im Innern zu investieren. Und er wünscht sich, dass en passant ausreichend Mittel freigesetzt werden können, um das entwicklungspolitische Engagement im Einklang mit den UNO-Zielen der Agenda 2030 zu erhöhen.
Am dichtesten ist Fridez’ Gedankenführung, wo es ihm darum geht darzutun, die Schweiz brauche keine teuren Hochleistungskampfjets. Der Autor stützt sich dabei auf ein amerikanisches Gutachten, das empfiehlt, in die bodengestützte Luftraumverteidigung zu investieren statt in Superjets, die für die Defensive ungeeignet sind und für die Offensive nicht gebraucht werden. Das verspätete Plädoyer zur Abstimmung vom vergangenen 27. September behält damit volle Aktualität.
Als Lücke mag man empfinden, dass der Autor nicht auf die Herausforderung durch autonome, mittels künstlicher Intelligenz gesteuerte Kampfroboter am Boden und in der Luft eingeht, um die zurzeit an der UNO-Abrüstungskonferenz in Genf intensiv gerungen wird.
Man braucht mit dem Autor nicht überall einig zu gehen, um den Diskussionsbeitrag willkommen zu heissen. Fridez, Hausarzt von Beruf, ist kein Illusionist, sondern ein helvetisch geerdeter Milizpolitiker. Er inventarisiert unspektakulär, was ist und was nach menschlichem Ermessen sein könnte. Insider werden in seiner Auslegeordnung vor allem Vertrautes finden. Wer sich für Sicherheitspolitik an der Schnittstelle zwischen militärischer Verteidigung und Aussenpolitik interessiert, findet hier Anregung.
Pierre-Alain Fridez, Sicherheit und Verteidigung der Schweiz, Tabus brechen, Lösungen wagen, übersetzt aus dem Französischen von Peter Hug, Ed. Favre, Lausanne 2020, 192 Seiten, CHF 11.50.
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