Kolumne

Das neue China, Europa und die Schweiz

von Daniel Woker | November 2017
Mit der Inthronisierung von Xi Jinping als «Mao II» hat China sichtbar die Schwelle zur autoritären, auf globale Dominanz ausgerichteten Grossmacht überschritten. Im Zeitalter von Trump kann nur Europa die der internationalen Ordnung bisher zugrunde liegenden Werte verteidigen. Zu diesem Europa gehört auch die Schweiz.

Seit Mao Zedong hat kein chinesischer Präsident mehr so uneingeschränkt geherrscht, wie dies seit dem eben abgehaltenen Parteikongress in Beijing nun für Xi der Fall ist. Neu sind seine ideologische Machtfülle, sein unbegrenzter Führungswille ohne designierten Nachfolger und sein Anspruch, das chinesische Modell des straff geführten Einparteienstaates international propagieren zu wollen. Das kommt einer modernen und chinesische Ausprägung von Leninismus nahe.

Globale Strategie
Damit erscheinen auch die aussen- und sicherheitspolitischen Instrumente Beijing’s in einem etwas anderen Licht als bislang. Die «neuen Seidenstrasse», welche China via Zentral- und Südasien auf breiter Ebene mit Europa und Afrika verbindet, Beijing’s Aggressivität in seinem Besitzanspruch über praktisch das gesamte süd- und ostchinesische Meer, rascher Ausbau und Modernisierung der Streitkräfte, regionale (RCEP, Regional Comprehensive Economic Partnership) und bilaterale Wirtschaftsverträge, ein schnell wachsendes Netz von Aussenposten sowohl kultureller als auch ideologischer Natur (Konfuzius-Institute an ausländischen Universitäten und Schulen) sind Elemente  einer globalen Strategie, welche Chinas Einfluss verstärken und zementieren sollen.

Widerstände
Dass dieser Anspruch sowohl als Ganzes, als auch einzelne Elemente davon auf Hindernisse und Widerstände stösst ist offensichtlich. Intern ist China zwar daran, seine rasche Industrialisierung um jeden Preis aufzugeben, wozu es sowohl mit Blick auf die damit verbundene Umweltzerstörung als auch wegen überproportional steigenden Lohnkosten auch gezwungen war. Was aber mit den damit frei werdenden Massen ungelernter Arbeiter geschehen soll erscheint unklar.

Extern müssen praktisch alle Nachbarn Chinas Machthaber Sorgen bereiten. Der «slanging match» mit nuklearem Hintergrund zwischen Nordkorea und Trump läuft dem chinesischen Interesse an Stabilität und Vorausschaubarkeit diametral zuwider. Die drei anderen asiatischen Machtzentren – Indien, Japan und Korea sowie die ASEAN (Association of South East Asian Nations) – sind zwar alle an chinesischem Geld interessiert, wenden sich aber zunehmend resoluter gegen die damit einhergehende Umarmung durch Beijing.

Ungelöst erscheint schliesslich der immer deutlicher werdende Widerspruch zwischen Entwicklung und Modernisierung der chinesischen Wirtschaft einerseits und der von Xi eingeforderten Uniformität des Denkens und Handelns «zum Wohle der Partei» andererseits. Wie können in einem gegenüber Intellektuellen, Querdenkern – ganz zu schweigen von Dissidenten – immer feindlicher werdenden Umfeld die auch für wirtschaftlichen Fortschritt unverzichtbare Kreativität, Innovation und kulturelle Schaffenskraft gedeihen? Dies zudem in der heutigen vernetzten Welt, wo im Gegensatz zu den Zeiten von «Mao I» hermetische Abriegelung eines Riesenreiches wie China und seiner Abermillionen Einwohner ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Rolle von Europa
Hier wird die Bedeutung aller europäischen Beziehungen mit China offensichtlich. Freier Handel bedingt auch freie Gedanken, ohne beides sind Austausche für beide Seiten auf längere Frist weder profitabel noch nachhaltig. Es kann deshalb gegenüber dem neuen China keine «Wirtschaft pur» geben. Es geht um die Rahmenbedingungen von Austauschen. Von zentraler Wichtigkeit ist das klare Bekenntnis im zwischenstaatlichen Verkehr, das Geld nicht alles kauft. Das bedeutet beispielsweise, dass in Wirtschaftsverträgen auch Klauseln zu Menschenrechten, zu ökologischer Umsicht und zu wirklich unabhängiger Konfliktschlichtung enthalten sein müssen. Kurz, jede vertragliche Bindung mit chinesischen Staatsstrukturen hat auch ihre strategische Seite.

Diese kann aber nur geltend gemacht und durchgesetzt werden zwischen zwei Parteien, die sich macht- und wirtschaftspolitisch ungefähr auf Augenhöhe begegnen. Bereits heute und noch vermehrt in der Zukunft kann das auf europäischer Seite nur die EU sein. Dies gilt, wenn reine Machtpolitik via handelspolitische Retorsion gefragt ist. Die deutsche und, wie das Beispiel Meyer Burger zeigt, auch die schweizerische Fabrikation im Bereich Solarenergie wird durch unerlaubte chinesische Exporthilfen kaputt gemacht.

Willfähriges Verhalten auf nationaler Ebene bringt nichts. Die ausgesprochene «Kotau-Politik» der seinerzeitigen britischen Regierung von PM Cameron hat keinerlei Vorteile für britische Firmen in China gebracht. Beijing ist an der EU interessiert, nicht an Nostalgie, welche zudem im Falle des UK für die chinesische Seite bitter verbrämt erscheint. Dies sollten sich die in «Imperial Britain»-Träumen befangenen «Brexiter» ganz speziell hinter die Ohren schreiben.

Bedeutung für die Schweiz
Für beide Seiten auf längere Sicht vernünftige und ertragsreiche Wirtschaftsabkommen kann also nur die EU mit China abschliessen. Deren Hauptlinien dann für die europäischen Aussenseiter, zu denen auch die Schweiz gehört, unumgänglich werden.

So betrachtet erscheint das bereits bestehende bilaterale Freihandelsabkommen (FTA) der Schweiz mit China als strategische Schlaumeierei, aber wohl auch als vergebliche Liebesmüh. Berichte aus dem Felde zeigen nämlich, dass zumindest die administrativen Hürden für Exporte aus der Schweiz seit dem Abschluss des Abkommens zu- und nicht abgenommen haben. Wohl hat das auch damit zu tun, dass in der Wirtschaftsrealität von heute mit ihren internationalen Wertschöpfungsketten nationale Zuschreibung von Waren und Dienstleistungen immer komplexer wird. Hauptgrund ist aber, dass für China nur das grosse Bild von Bedeutung ist. Ein FTA mit der Schweiz, ebenso wie beispielsweise die de facto Übernahme des Hafens von Athen sind in chinesischer Sicht Brückenköpfe zum weiteren Europa; kleine bilaterale Partner höchstens ein Mittel zum Zweck.

Kalter Krieg?
Nein. Der Hinweis auf gewisse Parallelitäten zwischen der expandierenden Sowjetunion der 1960er Jahre und dem China von Xi bedeutet nicht die Ausrufung eines neuen kalten Krieges. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die damals ausgeprägte Verbindung zwischen Aussen- und Wirtschaftspolitik, mit Blick auf übergeordnete strategische Interessen, dürfte eine Neuauflage erleben. Schweizerische «Neutralität» gab und gibt es hier nicht; damals machte die Schweiz mit bei allen strategischen Beschränkungen (Beispiel COCOM) und sie wird es wieder so machen. Machen müssen, weil im 21. und asiatischen Jahrhundert das global schwindende Gewicht Europas nur mit mehr Geschlossenheit, also der EU abgefedert werden kann.

Dr. Daniel Woker, ehemaliger Botschafter und Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen.