Lesetipp

Die Schweiz zwischen kolonialem Sonderfall und Normalfall

von Markus Mugglin | Oktober 2023
Sonderfall oder Normalfall oder vielmehr etwas dazwischen? Die beiden Pole prägen das Buch «Blicke auf die koloniale Schweiz», in welchem der Historiker Georg Kreis die Forschung zu den schweizerischen Kolonialbeziehungen dokumentiert, reflektiert und danach fragt, warum das Interesse daran seit neuerer Zeit gewachsen ist. Es ist ein Bericht über eine inzwischen reichhaltige Bibliographie.

Die Forschung bewegt sich von der früheren Sonderfall-These zur späteren «Fast-Normalfall»-These hin. In der Zeit des imperialen Kolonialismus spiegelt sich die Schweiz in der Literatur mehr als Sonderfall, «weil sie keine formale Kolonialherrschaft ausübte und sich nur informell an ihr beteiligte», obwohl «eine grosse, transnationale Gemeinsamkeit zwischen der Schweiz und den Kolonialmächten» bestand. In nachkolonialer Zeit wird sie hingegen mehr als Normalfall gesehen, «weil sie wie die ehemaligen Kolonialmächte weiterhin Teil des ökonomisch überlegenen Nordens ist und die alten, in der Kolonialzeit wurzelnden Überlegenheitsvorstellungen tendenziell ebenfalls weiterhin in sich trägt».

Kreis geht zuerst den Beweggründen für die Beschäftigung mit den schweizerischen Kolonial- und Globalbeziehungen nach, richtet dann seinen Blick auf die Chronologie der Publikationen und gliedert danach seine Beobachtungen nach sieben verschiedenen Sektoren: Wie haben Schweizer Staats- und Wirtschaftstheoretiker sowie Historiker den Kolonialismus gesehen, wie nahmen Unternehmen teil, waren sie an Sklavenarbeit beteiligt, welche Rolle spielten die Missionen, gab es Söldnerwesen in kolonialisierten Gegenden, wie verhielt sich der schweizerische Staat? Wie werden alle diese Fragen in früheren und jüngeren Forschungsberichten thematisiert und wie beurteilt?

Zunehmend selbstkritische Reflexion

Georg Kreis stellt zwischen früheren und jüngeren Forschungsberichten auch eine Differenz in der Perspektive fest. Weit zurückliegend sei die Kolonialgeschichte meist ohne Bezüge zur Schweiz untersucht worden. Jüngere Arbeiten stellten diese hingegen her und – eine zweite Differenz – sie äusserten sich aus einem kritischen Verhältnis zum Kolonialismus.

Die offizielle Politik indes steht quer zu dieser Entwicklung. Kreis zeigt es beispielhaft an der über Jahre sich hinziehende Diskussion über die Rolle der Schweiz und die Frage einer Mitschuld rund um die 2001 in Durban stattgefundene UN-Konferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und die damit verbundene Intoleranz. Im Nachgang zur Konferenz musste der Bundesrat Stellung beziehen, wollte sich aber gleichzeitig raushalten, wie der Autor Kreis kritisch anmerkt: «Statt die schweizerische Beteiligung an kolonialen Unternehmen zum bestimmenden Kriterium zu machen, will sich der Bundesrat als neutraler Vermittler in Kolonialkontroversen positionieren.» Auch im Zusammenhang mit dem Einsitz in den Uno-Sicherheitsrat betont die Schweiz, dass sie «nicht über koloniale Besitztümer verfügt» habe.

 Ahistorische Wirtschaftsgeschichtschreibung 

Dass die Schweiz der imperialen Mitwirkung «völlständig unverdächtig» sei, wird aber vermehrt in Zweifel gezogen. Kreis zitiert den Historiker Harald Fischer-Tiné von der ETH-Zürich, der einen Kausalzusammenhang zwischen der gewaltsamen Kolonisierung und ökonomischen Ausbeutung der aussereuropäischen Welt einerseits und dem Wachstum der helvetischen Volkswirtschaft sieht. Damit setzt der Historiker Fischer-Tiné allerdings einen Kontrapunkt zu den noch immer gängigen Überzeugungen, wie es die Schweiz zu ihrem Reichtum gebracht hat. Georg Kreis verweist dabei auf eine Basler Wirtschaftsstudie aus dem Jahre 2009. Auf die Frage, warum die Schweiz so reich geworden ist, listet sie Wettbewerb und Flexibilität, Arbeitsethos, Unternehmergeist, Industrialisierung und Freihandel, Neutralität, Demokratie, Subsidiarität und Stabilität als Gründe auf, was der Chronist Kreis schon fast resignierend zur Kenntnis nimmt: «Es hätte überrascht, wenn Kolonialwirtschaft und Sklavenhandel in dieser Studie beachtet worden wäre.»

Selbst im 2012 erschienenen über 1200 Seiten dicken Schmöker «Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» wird nicht gefragt, ob die Erfolgsgeschichte der Schweizer Wirtschaft allenfalls auch dank der in der Kolonialepoche gewachsenen Struktur der internationalen Arbeitsteilung ein festes Fundament gefunden hat? Als wäre es nicht offensichtlich, dass die heutigen weltwirtschaftlichen Gegensätze zwischen Industrie- und Rohstoffländern noch immer Züge aufweisen, die sich in der Kolonialzeit herausgebildet haben und bis heute auch die Schweiz privilegieren.

Selbstkritische Reflexion über die «koloniale Schweiz» ist offensichtlich noch nicht überall angekommen, wenn auch viel verbreiteter als vor ein paar Jahren. Der Historiker Kreis bietet mit seinem Forschungsbericht einen informativen und aufschlussreichen «Leitfaden» durch die wechselvolle Geschichte der Geschichtsschreibung über die durch den Kolonialismus mit-geprägten Schweiz.

 

Georg Kreis, Blicke auf die koloniale Schweiz, Chronos-Verlag, Basel, 2023, Fr. 38.-