Artikel

Reform des Sicherheitsrats – ein Schweizer Vorschlag

von Michael Ambühl, Nora Meier und Daniel Thürer * | Juni 2023
Der russische Angriff auf die Ukraine hat bei uns im Westen viele Grundsatzdebatten ausgelöst und gesellschafts-. sicherheits- und energiepolitische Neuorientierungen gefordert. Was bis vor wenigen Jahren mehrheitsfähig war, ist es heute nicht mehr.  Mit Finnland und Schweden haben sich sogar zwei bislang bündnisfreie Staaten zu einer NATO- Mitgliedschaft entschieden, und in der Schweiz denkt man über eine Neudefinition ihrer jahrhundertealten Neutralität nach. Alles Kurswechsel, die vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen wären. Trotzdem sind sie heute Realität. Weil sich der Kontext geändert hat.

Debattiert wird seit Kriegsausbruch viel. Auffällig abwesend ist dabei jedoch die Diskussion über eine dringend not wendige Reform des UN-Sicherheitsrats. Obwohl  mandatiert,  internationalen Frieden und Sicherheit zu wahren, bleibt der Sicherheitsrat aufgrund des russischen Vetorechts in diesem Konflikt beschlussunfähig und praktisch zahnlos. Die Tatsache, dass diese Blockierungsmöglichkeit überhaupt  besteht, ist auf einen systemischen Fehler zurückzuführen.

Während in anderen Bereichen bestehende Systeme an die geänderten Umstände angepasst werden, wird bei einer Reform des Sicherheitsrats entweder eiligst auf die schiere Unmöglichkeit verwiesen. Oder man flüchtet sich in gut gemeinte „Mini-Reformen“, wie die Erhöhung der Rechenschaftspflicht bei Anwendung eines Vetos. Anstatt die Probleme an der Wurzel zu packen, wirken solche Reformen kontraproduktiv, indem sie dem Status Quo indirekt mehr Legitimität verleihen. Wenn auch das Unmöglichkeitsargument nachvollziehbar klingen mag, rechtfertigt es nicht, sich nicht mit der Thematik auseinanderzusetzen. Dies möchten wir im Folgenden tun.

Vorschlag

Unser Vorschlag soll nicht an den Grundstrukturen des Sicherheitsrats rütteln: so unterscheiden wir weiterhin zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern und verleihen den ständigen bei Abstimmungen ein höheres Gewicht. Auch die regionalen Verteilkriterien zur Vergabe der Sitze im Sicherheitsrat sollen beibehalten werden. Eine Bewahrung von Bewährtem also, um den ohnehin schwach entwickelten Reformwillen nicht zu überstrapazieren. Obwohl ein auf der „grünen Wiese“ entworfenes, neues kollektives Sicherheitssystem womöglich besser wäre.

Drei Reformelemente

Ziel unserer Reformvorschläge sind die Einführung einer  Abstimmungsregel mit weniger Blockierungspotential sowie die Erhöhung der Repräsentativität und Legitimität des Sicherheitsrats. Es darf nicht sein, dass beispielsweise Indien mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden weniger Gewicht hat als seine frühere Kolonialmacht Großbritannien mit 60 Millionen. Unser Vorschlag hat drei Elemente:

Erstens eine Erhöhung der Mitgliederzahl. Im heutigen 15er-System sind fünf Staaten (the permanent 5, „P5“) ständig im Sicherheitsrat vertreten (China, Frankreich, Russland, Grossbritannien und die USA). Dazu bekommen zehn weitere, Mitgliedsstaaten jeweils für zwei Jahre einen Sitz als nichtständige Mitglieder. In unserem Vorschlag würden die ständigen Sitze von fünf auf zehn und die nichtständigen von zehn auf 15 erhöht. Der Sicherheitsrat bestünde neu anstatt aus 15 aus 25 Staaten.

Zweitens eine Bestimmung der ständigen Mitglieder auf der Basis objektiver Kriterien. Hier bieten sich die Bevölkerungszahl, das BIP und die freiwilligen Beiträge an das UN-Budget an. Aus unserer Sicht wäre es gerechtfertigt, die Bevölkerungszahl gleich zu gewichten wie die beiden Kriterien BIP und freiwillige Beiträge zusammen, die ihrerseits unter sich das gleiche Gewicht hätten: also 50 Prozent, 25 Prozent, 25 Prozent. Je nach Gewichtung dieser Kriterien resultiert natürlich eine andere Rangliste von Staaten. Interessanterweise würde es Russland – ein P5-Staat – aber in keiner der von uns analysierten zahlreichen  Gewichtungsvarianten unter die ersten zehn Plätze schaffen. Das Land hat eine zu kleine Bevölkerung, und sein BI entspricht lediglich jenem einer Mittelmacht, zum Beispiel Spanien. Auch Frankreich, ein weiterer P5-Staat, ist zu klein, um unter Anwendung der drei Kriterien in die P10 aufgenommen zu werden.

Gesicherte Plätze gäbe es für die USA, China, Indien und insbesondere auch Deutschland. Die uneingeschränkte Anwendung der Kriterienregel hätte jedoch zur Folge, dass nicht alle fünf UN-Regionen ständig im Sicherheitsrat vertreten wären: Afrika und Osteuropa würden fehlen. Um dieses Manko zu beheben, braucht es eine zusätzliche Bedingung: Jede Region soll mindestens einen ständigen Sitz erhalten. Damit würden es Russland als osteuropäischer und Nigeria als afrikanischer Repräsentant in den P10- Klub schaffen. Verbleibt das Problem des heutigen P5-Staates Frankreich. Wenn es im Rahmen einer Reform nicht gelingt, dessen Sitz zu „europäisieren“ (wonach es nicht aussieht), müsste eine Lösung gefunden werden, die seine „erworbenen Rechte“ schützt. so könnte man den zehnten Sitz an Frankreich vergeben. Dies ergäbe folgende Sitzverteilung für die P10: Brasilien, China, Nigeria, Russland, USA gefolgt von Indien, Deutschland, Japan, Grossbritannien und Frankreich. Alle Staaten erfüllen das objektive Auswahlkriterium, außer Russland und Nigeria, die es unter dem Titel „Regionsvertreter“, sowie Frankreich, das es unter dem Titel „erworbene Rechte“ in den Sicherheitsrat schaffen würde. Diese Liste sollte periodisch (alle 15 Jahre) überprüft und mit einfacher Mehrheit angepasst werden können.

Drittens eine Überarbeitung der Abstimmungsregel. Die heutige Einstimmigkeitsregel (Vetorecht) für die P5 kann natürlich nicht auf die P10 ausgedehnt werden. Sonst würde der Rat noch mehr blockiert. Für die Beschlussfassung schlagen wir vor, dass im 25er- Klub nur das einfache Mehr nötig  ist (13), ergänzt durch die Zusatzbedingung, dass höchstens zwei der P10 ablehnen dürfen. Mit anderen Worten: drei der P10 könnten einen Beschluss verhindern. Das „Vetorecht“ würde damit moderat eingeschränkt. Ein „Fall Russland“, in dem ein Mitglied griffige Maßnahmen gegen sich selbst mit einem alleinigen Veto verhindern kann, wäre unmöglich. Auch die zahlreichen chinesisch-russischen sogenannten Doppelpack-Vetos würden künftig nicht mehr ausreichen.

Wenn nicht jetzt, dann wann?

So weit, so gut, aber wie bringt  man eine solche Reform durch? sie bedingt eine Änderung der UN-Charta  und muss darum letztlich von den fünf heutigen Vetomächten genehmigt werden. Diese scheinen – wie alle bisherigen Reformversuche zeigen – wenig Lust zu verspüren, ihre 1945 erworbenen Privilegien aufzugeben. Henry Kissinger hat in seinem Buch „Staatskunst“ (2022) eindrücklich das Versagen der alten aussenpolitischen Aristokratien beschrieben, die sich – obwohl oft zerstritten – bei der Verteidigung ihrer Privilegien rasch einig gewesen seien. Ähnlich kommt einem das Verhalten der heutigen P5 vor. So uneinig sie beim brutalen russischen Feldzug gegen die Ukraine auch sein mögen, es wäre keinem der P4 in den Sinn gekommen, das  russische Veto grundsätzlich in Frage zu stellen. Braucht es dazu erst den Einsatz von russischen Atomwaffen, bis man ernsthaft Änderungen ins Auge fasst? Hoffentlich nicht! Es braucht (i) moderate Reformvorschläge, kombiniert (ii) mit einer klugen Vorgehensweise in der UN, ergänzt (iii) durch entschlossenen diplomatischen Druck der Änderungswilligen.

Kein radikaler Wechsel, mehrere Gewinner

Unsere Vorschläge führen nicht zu einem radikalen Systemwechsel: im Gegenteil, sie basieren auf dem bestehenden Bauplan des Sicherheitsrates und belassen sogar gewisse Privilegien bei den P10, um die Wahrscheinlichkeit einer Akzeptanz zu erhöhen. Sie verstossen damit auch gegen den in Art 2 (1) der UN-Charta festgelegten Grundsatz der „souveränen Gleichheit“ der Mitglieder. Eigentlich ein zynisches Paradox, dass es einer Verletzung dieses Gleichheitsgrundsatzes bedarf, um Reformchancen zu verbessern. Ein Überbleibsel monarchistischer Denkmuster, in denen Ungleichheit Programm ist?

Was das Vorgehen anbelangt: in allen bisherigen Reformabsichten hat man wegen des Vetorechts stets ein Scheitern antizipiert. Das Vetorecht käme in einem Reformprozess aber erst ganz am Schluss zum Tragen. Gemäss Artikel 109 der Charta könnten die Reformvorschläge in einer sogenannten „Allgemeinen Konferenz“ mit einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung zur Annahme empfohlen werden. Die P5 könnten also nicht verhindern, dass die Vorschläge auf den Tisch gebracht werden. Erst die Ratifikation könnten sie verweigern und damit ein Reformvorhaben sabotieren.

Zum diplomatischen Druck: Von den vorgeschlagenen Änderungen profitieren viele Länder: Afrika erhält den seit langem geforderten ständigen Sitz. Ebenso die G4-Staaten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan. Und kein aktueller P5-Sttaat würde  seinen Sitz verlieren. Die potenziellen Gewinner sollten sich zusammentun und auf einer Reform bestehen. Als Ultima Ratio könnten sie einen Boykott der Sicherheitsratssitzungen erwägen. Es bräuchte nur sieben Mitglieder, die den Sitzungen fernblieben, um den Rat beschlussunfähig zu machen.

Der russische Angriff auf die Ukraine sollte genutzt werden, eine Reformdebatte zu lancieren. Dazu braucht es kreative Lösungsvorschläge, die Neues propagieren, ohne sich  den  Realitäten der internationalen Politik zu verschliessen. Unser Vorschlag bewahrt, was bewahrt werden kann, bringt aber eine höhere Repräsentativität und eine Zusammensetzung des Sicherheitsrats, die auf objektiven Kriterien beruht. Eine solche hätte zur Folge, dass der afrikanische Kontinent, aber auch das bevölkerungsreichste Land Indien oder das europäische Schwergewicht Deutschland in den UN entsprechend ihrer weltpolitischen Bedeutung vertreten wären. Dies trifft insbesondere für Deutschland zu, das seit dem Ukrainekrieg eine EU-Führungsrolle übernehmen musste und dem auch in der NATO über kurz oder lang mehr Verantwortung auferlegt werden dürfte. Die vorgeschlagene Abstimmungsregel führt zudem dazu, dass dem Geburtsfehler der UN – dem Vetorecht – endlich etwas entgegengehalten wird.

********************************************************************************

Michael Ambühl, emeritierter Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement an der ETH Zürich, war langjähriger Staatssekretär des EDA und des EFD. Er hat zahlreiche internationale Verhandlungen und Mediationen (unter anderem Iran-P5+1) geführt und ist heute Berater für Konfliktmanagement.

Die Politikwissenschaftlerin Nora Meier ist ehemalige Geschäftsführerin der Swiss School of Public Governance der ETH Zürich und forscht heute am Lehrstuhl für Politische Philosophie der Universität Zürich.

Daniel Thürer ist emeritierter Professor für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht und ehemaliges Mitglied des OSZE Schieds- und Vergleichsgerichtshofs.

 

 

 

 

 
Artikel

Schweiz im Sicherheitsrat KW 16/2024

von jaeschlimann | April 2024
Themen der Woche: Palästina, Israel-Gaza-Iran, UNRWA, Jemen, Ukraine, Libyen, Westsahara, Sudan, OSZE, Jugend