Lesetipp

Anpassung an neue Konstellationen (1973 – 1975)

von Christoph Wehrli | April 2018
Aussenpolitische Akten aus den Jahren 1973 bis 1975 illustrieren das Verhalten der Schweiz in einer multipolar werdenden Welt. Wichtige Handlungsfelder sind der Ost-West-Dialog, Antworten auf die Ölkrise und die Nord-Süd-Politik.

Kann ein Hinweis auf den neuen, 26. Band «Diplomatische Dokumente der Schweiz» ein Lesetipp im Wortsinn sein? Die 194 publizierten Aktenstücke geben für sich allein nicht immer Aufschluss über die Entwicklungen und den Kontext. Sie sind zwar durch Register und die Einleitung bestens erschlossen, werden aber kaum weiter erläutert. Vielmehr wird bei jedem Dokument auf damit zusammenhängende Quellen verwiesen, von denen viele – insgesamt 2300 – auf der Datenbank dodis.ch zugänglich sind. Insofern wird man das Buch als Hilfsmittel benützen.

Aber auch ein ungezieltes Lesen kann sich lohnen, denn dabei zeigt sich das ganze Spektrum der Themen, das die Herausgeber unter der Leitung von Sacha Zala weit gefasst haben. Dies entspricht einer gewissen Internationalisierung und Politisierung von Fragen, die manche lieber im Bereich der Routine und jedenfalls der nationalen Autonomie gesehen hätten. Handelsförderung, Rüstungsexport, Energieversorgung, Währung, Menschenrechte und Migration sind Beispiele, an denen sich diese Tendenz in der Zeit von 1973 bis 1975 verschiedentlich manifestierte. Auch da der Band vor allem interne Dokumente enthält, ist «diplomatisch» für sie ein missverständliches Adjektiv.

Sanfter Wandel der Neutralität

Im Ost-West-Verhältnis war damals – Aussenminister war der Westschweizer Sozialdemokrat Pierre Graber – die Vorbereitung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein wesentlicher Handlungsstrang. Für die Schweiz war sie schon deshalb von Bedeutung, weil sie dem Uno-, Nato- und EG-Nichtmitglied die gleichberechtigte Teilnahme erlaubte. Berns Hauptanliegen war ein System der friedlichen Streitbeilegung, während man im Engagement für menschliche Kontakte und Zugang zu Information keine entsprechende Initiative ergriff (Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde erst im November 1974 ratifiziert).

In dem multilateralen Prozess wurde die schweizerische Neutralität aktiver, ein «Instrument der Kooperation» - so dass dieses «Masternarrativ» (Sacha Zala) gerade durch die behutsame Anpassung an Bedeutung gewann. In jene Phase fielen auch Schritte, wie der erste offizielle Besuch eines Bundesrates (Ernst Brugger) in Moskau, ein Handelsabkommen mit der DDR (trotz fehlenden Fortschritten im humanitären Bereich) und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Nordkorea (das übrigens Interesse am Kauf eines AKW bekundete).

Integrationspolitisch war mit dem Freihandelsabkommen 1972/73 eine Etappe erreicht. Die Neutralität galt als erster der Gründe, der Europäischen Gemeinschaft (EG) fernzubleiben. Auf Drängen der Nationalbank bemühte sich der Bundesrat indessen eine Zeitlang um einen Beitritt zur «Währungsschlange», aus der letztlich die Euro-Zone hervorgegangen ist.

Im Sog des Nahostkonflikts

Neuartig internationalisiert wurde in jener Zeit der Nahostkonflikt. Ein halbes Jahr vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 hatte Bundesrat Graber Ägypten besucht – und in der Schweiz für Aufregung gesorgt. Eine Möglichkeit für Gute Dienste bestand nicht. Vielmehr wurde die Schweiz wie die meisten Staaten von der Machtdemonstration der arabischen Ölstaaten getroffen, die nach Israels erneutem Sieg ihre Exporte drosselten. Sie beteiligte sich darauf an der Internationalen Energie-Agentur der OECD, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass dies neutralitätskonform war. Gleichzeitig wurden bilaterale Lösungen für eine sichere Energieversorgung angestrebt, etwa mittels jährlicher Treffen mit dem iranischen Schah während seiner Winterferien in der Schweiz. Auch der palästinensische Terrorismus hatte das Land mit schweren Anschlägen auf den Flugverkehr (1969/70) erreicht. Ein Repräsentant der Fatah stellte 1973 in Aussicht, den Terror von der Schweiz wegzulenken, falls die PLO ihre Vertretung in Genf offizialisieren könne, und seitens der PLO wurde ein solcher Zusammenhang im Rückblick bekräftigt. Reaktionen der Gesprächspartner in Bern sind keine vermerkt.

Die Entwicklungshilfe, die mit dem Katastrophenhilfekorps ein zusätzliches Instrument erhielt, war von den veränderten Konstellationen ebenfalls betroffen. Graber untersagte 1974 neue Projekte in der Ölländer-Region. Intern fragte man sich, ob der Ausschluss aller arabischen Länder «nicht den arabischen Nationalismus stark fördert, dessen Folgen wir vielleicht einst beklagen könnten». Der Delegierte für technische Zusammenarbeit, Marcel Heimo, klagte über Bestrebungen, die Hilfe, die doch langfristig auszurichten sei, an immer mehr Bedingungen zu knüpfen (Empfängerstaat ohne Atomwaffen, Entschädigung bei Nationalisierungen, kein autoritäres Regime usw.). Gleichzeitig plädierte er für eine umfassende Nord-Süd-Politik, die ihrerseits die Grenzen seiner Verwaltungseinheit überschritte.

Verflechtungen mit der Innenpolitik

Manche internationale Entwicklung setzte die Schweiz in Fragen unter Druck, die sie als ihre eigene Domäne, wenn nicht als Identitätsmerkmal ansah. Das Rechtshilfeabkommen mit den USA liess Botschafter Albert Weitnauer immerhin hoffen, dass sich erweisen werde, wie unberechtigt die «Anwürfe» im Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis seien. Erfolglos votierte das Politische Departement (das heutige EDA) 1975 gegen eine Exportrisikogarantie über 2,6 Milliarden Franken für Lieferungen nach Südafrika, wobei es mit der Bedeutung der (afrikanischen) «Rohstofflieferanten» und deren Haltung zur Apartheid, also primär wirtschaftlich argumentierte.

Als «politisches Dynamit» bezeichnete der Handelsdelegierte Raymond Probst die Ausländerpolitik mit Blick auf die KSZE. Dort liessen sich Probleme vermeiden. Doch bilateral blieb die Migration vor allem für Italien ein Schlüsselthema, und die damalige Überfremdungsinitiative verursachte in Bern auch wegen des Image in den Auswanderungsländern erhebliche Sorgen. Demgegenüber erscheint der Protest des Botschafters in Schweden gegen das in einem Museum ausgestellte, vermeintlich despektierliche Opus eines «Deutschen namens Joseph Beuys» als imagepolitischer Eifer am falschen Objekt. Zusammen mit anderen, vorausschauenden Zeugnissen mag die Episode illustrieren, dass die Persönlichkeit der Diplomaten durchaus eine Rolle spielte.

Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 26, 1.1.1973 – 31.12.1975. Forschungsleiter: Sacha Zala. Chronos-Verlag, Zürich, Armando Dadò Editore, Locarno, und Editions Zoé, Lausanne 2018. 582 S., Fr. 78.-.