Lesetipp
Das Réduit-Denken hat überlebt
von
Rudolf Wyder
| Mai 2017
Ein Blick zurück auf die Schweiz im Kalten Krieg bietet überraschende Interpretationshilfen zu den aktuellen Mühen der schweizerischen Aussenpolitik. Das Réduit-Denken hat nicht abgedankt. Die Geistige Landesverteidigung wirkt bis in die Jetztzeit.
Ideologische Konfrontation und Antikommunismus als Glaubensbekenntnis, militärische Aufrüstung bis hin zu Nuklearbewaffnungsplänen, Zivilverteidigung und Guerillakriegsvorbereitungen, Zivilschutz und Verbunkerung der Schweiz, Staatsschutz, Bespitzelung und Fichierung – dies sind die Hauptthemen von Thomas Buombergers neuem Buch «Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990». Der Fokus liegt dabei auf den Reaktionen schweizerischer Behörden und Institutionen auf die globale Polarisierung der zweiten Nachkriegszeit. Der materialreiche Band stellt damit einen interessanten Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Aufschlussreich sind etwa Differenzen in der Reaktion zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz, die weit gelassener auf den globalen Antagonismus reagierte. Instruktiv ist, wie Massnahmen immer wieder der Aktualität hinterherhinkten. So zu beobachten beim Staatsschutz in Zeiten ideologischer und politischer Entspannung oder bei der Zivilverteidigung, die ihr Apogäum erreichte, als der Kalte Krieg bereits vorüber war.
Der Autor charakterisiert den Kalten Krieg als «imaginären Krieg». Er geisselt blinden, hysterischen Antikommunismus, mokiert sich über Guerillakriegsphantasien, stellt den Zivilschutz als illusionären Leerlauf dar, prangert den überbordenden und dabei dilettantischen Staatsschutz an. In der Tat wirkt im Rückblick vieles grotesk, exzessiv, ja paranoid. Indes, der Historiker hat den Akteuren zuzubilligen, dass sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen urteilten und aufgrund der damaligen Erwartungen und Befürchtungen planten. Die Zeitbedingtheit des Handelns verstehbar zu machen, ist nachgerade die Essenz der Historiographie.
Thomas Buomberger legt eine unbedingt lesenswerte Materialsammlung vor – auch wenn sie sich gelegentlich wie die Beschreibung einer Allergie liest, ohne dass ausreichend auf die Allergene eingegangen würde. Die Beobachtung, dass der Kalte Krieg nicht in den befürchteten dritten Weltkrieg gemündet hat, reicht jedenfalls nicht aus, um das Handeln der damaligen Akteure pauschal zu disqualifizieren.
Aussenpolitisch bedeutsam ist die von Buomberger aufgezeigte bemerkenswerte Kontinuität in der Abwehrhaltung: entwickelt als «Geistige Landesverteidigung» gegen nationalsozialistische und faschistische Bedrohung, perfektioniert gegen den kommunistischen Totalitarismus, perpetuiert schliesslich in einen Raum und eine Zeit, wo die Schweiz ausschliesslich «von Freunden umzingelt» ist. «Die Geistige Landesverteidigung erwies sich als das wirkungsmächtigste geistig-kulturelle Konstrukt des 20. Jahrhunderts, das die mentale Verfassung grosser Teile der Bevölkerung geprägt, einen retardierenden Einfluss auf die Aussenpolitik und einen beschleunigenden auf die Sicherheitspolitik hatte, das Réduit-Denken beförderte und eine Öffnung der Schweiz behinderte.»
Jean Rodolphe von Salis diagnostizierte schon 1968: «Eigentlich ist uns der Ausbruch aus dem uns von aussen aufgezwungenen Réduit der Jahre 1940 bis 1945 nie recht gelungen, und obgleich das Bild von der Igelstellung weder strategisch noch politisch der neuen Wirklichkeit entspricht, halten wir immer noch dafür, wir müssten als ein Igel leben.» Einige unserer Zeitgenossen haben, wie Buomberger aufzeigt, die geistige Einigelung auch ein halbes Jahrhundert später noch nicht überwunden. Wer heute mit Bezug auf die europäische Integration die Formel «Anpassung oder Widerstand?» bemüht, wie dies ein omnipräsenter Meinungsmacher tut, ist definitiv in Kategorien einer längst und zum Glück überwundenen Vergangenheit gefangen geblieben.
Thomas Buomberger, Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990, Hier und Jetzt, Baden 2017, 420 Seiten, illustriert, 44.00 CHF.
Ideologische Konfrontation und Antikommunismus als Glaubensbekenntnis, militärische Aufrüstung bis hin zu Nuklearbewaffnungsplänen, Zivilverteidigung und Guerillakriegsvorbereitungen, Zivilschutz und Verbunkerung der Schweiz, Staatsschutz, Bespitzelung und Fichierung – dies sind die Hauptthemen von Thomas Buombergers neuem Buch «Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990». Der Fokus liegt dabei auf den Reaktionen schweizerischer Behörden und Institutionen auf die globale Polarisierung der zweiten Nachkriegszeit. Der materialreiche Band stellt damit einen interessanten Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Aufschlussreich sind etwa Differenzen in der Reaktion zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz, die weit gelassener auf den globalen Antagonismus reagierte. Instruktiv ist, wie Massnahmen immer wieder der Aktualität hinterherhinkten. So zu beobachten beim Staatsschutz in Zeiten ideologischer und politischer Entspannung oder bei der Zivilverteidigung, die ihr Apogäum erreichte, als der Kalte Krieg bereits vorüber war.
Der Autor charakterisiert den Kalten Krieg als «imaginären Krieg». Er geisselt blinden, hysterischen Antikommunismus, mokiert sich über Guerillakriegsphantasien, stellt den Zivilschutz als illusionären Leerlauf dar, prangert den überbordenden und dabei dilettantischen Staatsschutz an. In der Tat wirkt im Rückblick vieles grotesk, exzessiv, ja paranoid. Indes, der Historiker hat den Akteuren zuzubilligen, dass sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen urteilten und aufgrund der damaligen Erwartungen und Befürchtungen planten. Die Zeitbedingtheit des Handelns verstehbar zu machen, ist nachgerade die Essenz der Historiographie.
Thomas Buomberger legt eine unbedingt lesenswerte Materialsammlung vor – auch wenn sie sich gelegentlich wie die Beschreibung einer Allergie liest, ohne dass ausreichend auf die Allergene eingegangen würde. Die Beobachtung, dass der Kalte Krieg nicht in den befürchteten dritten Weltkrieg gemündet hat, reicht jedenfalls nicht aus, um das Handeln der damaligen Akteure pauschal zu disqualifizieren.
Aussenpolitisch bedeutsam ist die von Buomberger aufgezeigte bemerkenswerte Kontinuität in der Abwehrhaltung: entwickelt als «Geistige Landesverteidigung» gegen nationalsozialistische und faschistische Bedrohung, perfektioniert gegen den kommunistischen Totalitarismus, perpetuiert schliesslich in einen Raum und eine Zeit, wo die Schweiz ausschliesslich «von Freunden umzingelt» ist. «Die Geistige Landesverteidigung erwies sich als das wirkungsmächtigste geistig-kulturelle Konstrukt des 20. Jahrhunderts, das die mentale Verfassung grosser Teile der Bevölkerung geprägt, einen retardierenden Einfluss auf die Aussenpolitik und einen beschleunigenden auf die Sicherheitspolitik hatte, das Réduit-Denken beförderte und eine Öffnung der Schweiz behinderte.»
Jean Rodolphe von Salis diagnostizierte schon 1968: «Eigentlich ist uns der Ausbruch aus dem uns von aussen aufgezwungenen Réduit der Jahre 1940 bis 1945 nie recht gelungen, und obgleich das Bild von der Igelstellung weder strategisch noch politisch der neuen Wirklichkeit entspricht, halten wir immer noch dafür, wir müssten als ein Igel leben.» Einige unserer Zeitgenossen haben, wie Buomberger aufzeigt, die geistige Einigelung auch ein halbes Jahrhundert später noch nicht überwunden. Wer heute mit Bezug auf die europäische Integration die Formel «Anpassung oder Widerstand?» bemüht, wie dies ein omnipräsenter Meinungsmacher tut, ist definitiv in Kategorien einer längst und zum Glück überwundenen Vergangenheit gefangen geblieben.
Thomas Buomberger, Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990, Hier und Jetzt, Baden 2017, 420 Seiten, illustriert, 44.00 CHF.
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