Lesetipp

Eine Welt unter Hochspannung

von René Holenstein | September 2023
In letzter Zeit wird oft von einer «globalen Multikrise» gesprochen, um auf die gleichzeitige Existenz mehrerer Krisen hinzuweisen, die sich gegenseitig beeinflussen. Jacques Forsters neuestes Buch fokussiert auf die Frage, wie sich diese Krisen auf die Nord-Süd-Beziehungen und die Entwicklungszusammenarbeit auswirken.

Aufstieg des globalen Südens

In seiner Publikation «Coopération Nord-Sud: la solidarité à l’épreuve», die aus drei Teilen besteht, beschreibt Jacques Forster, ein emeritierter Professor am Institut des hautes études internationales et du développement (IHEID), den Wandel der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe im Zeitraum von hundert Jahren (1919-2019). Laut Forster gehen die Anfänge auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die eigentliche Entwicklungshilfe begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel, die Entwicklung in den Ländern der Dritten Welt (heute globaler Süden) zu unterstützen. In den 1960er Jahren wurde die «Modernisierungstheorie» populär, die besagte, dass entwickelte Länder den Entwicklungsländern helfen könnten, indem sie ihre Technologie und ihre Modelle wirtschaftlicher und politischer Entwicklung übertragen. In den 1970er Jahren gab es wachsende Kritik an diesem Ansatz, während die 1980er Jahre von der Schuldenkrise geprägt waren. Ab den 1990er Jahren wurden neue Herausforderungen für die Entwicklungsländer sichtbar, wie zum Beispiel der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität und neue Formen der Armut. Im Jahr 2015 wurde die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung verabschiedet.

Im soeben erschienenen dritten Teil seiner Publikation, die den Untertitel «Un monde sous tension» trägt, beschreibt Forster, wie die Globalisierung die geostrategischen Interessen der Staaten und die Machtverhältnisse verändert hat. Auf globaler Ebene hat sich das Machtzentrum in den globalen Süden und nach Asien verlagert, insbesondere nach China. Und obwohl das Ende des Kalten Kriegs Hoffnung auf eine friedlichere Welt gegeben hat, sind dreissig Jahre später die globalen Spannungen stärker denn je. Gewalt, Armut und die Klimakrise haben zugenommen, während die Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) stagniert.

Mit dem Aufstieg des Südens hat die Debatte über Entkolonialisierung in jüngster Zeit erneut an Fahrt gewonnen. Die Erinnerung an die Gewalt und Brutalität des Kolonialismus und der Sklaverei ist heute präsenter denn je. Auch die internationale Entwicklungszusammenarbeit erfährt eine neue Dynamik, und die traditionelle Geber-Empfänger-Konstellation wird in Frage gestellt. Es ist daher nicht überraschend, dass die Ermahnungen des Westens in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie im globalen Süden kaum mehr ernst genommen werden. Angesichts der Diskrepanz zwischen den propagierten Werten und der realen Aussenpolitik des Westens wirken sie für viele Menschen unglaubwürdig und zynisch.

Menschliche Sicherheit als Richtschnur

Vor dem Hintergrund grassierender Gewalt, Armut und der Klimakrise fordert Forster, das Konzept der «menschlichen Sicherheit» wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Dieses Konzept, das 1994 von den Vereinten Nationen entwickelt wurde, betont den Schutz des Individuums und der Menschenwürde. Im Gegensatz zu dem traditionellen militärischen Sicherheitsverständnis, das aufgrund des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine wieder an Bedeutung gewonnen hat, vereint die menschliche Sicherheit Aspekte der Menschenrechte, der sozialen und politischen Entwicklung. Friedenssicherung, Konfliktprävention und die Stärkung der Zivilgesellschaft stehen dabei im Zentrum.

Forster betont, dass die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe auch in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen werden, und fordert eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik, um den veränderten globalen Machtverhältnissen gerecht zu werden. Vier Hauptaspekte stehen für ihn im Mittelpunkt:

Erstens sollte das internationale Entwicklungshilfesystem breiter aufgestellt sein, da es derzeit noch hauptsächlich von OECD-Mitgliedstaaten dominiert wird und neue Geber wie China aussen vor bleiben. Forster schlägt vor, dass die Vereinten Nationen als Rahmen dienen sollten, in dem die Länder des Südens und des Nordens, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft als gleichberechtigte Partner einbezogen werden. Dies sollte einhergehen mit einer Stärkung des multilateralen Systems, das effizienter internationale Hilfe leisten kann als bilaterale Geber.

Zweitens liegt es in der Verantwortung der Akteure der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe, die früher beschlossenen Grundsätze und Massnahmen zur Verringerung der Ungleichheiten in der Nord-Süd-Zusammenarbeit tatsächlich umzusetzen. Dies betrifft die Verbesserung der Qualität und Effektivität ihrer Programme, wie es in der Pariser Erklärung von 2005 und den Verpflichtungen des Weltgipfels für humanitäre Hilfe von 2015 festgelegt ist. Darüber hinaus bedeutet dies, die Rechenschaftspflicht von Entwicklungs- und humanitären Programmen gegenüber den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu verbessern.

Drittens erfordert die Finanzierung von Entwicklungsprogrammen neue Finanzierungsquellen, wie beispielsweise Steuern auf Finanztransaktionen. Denn trotz Entwicklungshilfe und privater Investitionen fliesst immer noch mehr Geld vom Süden in den Norden als umgekehrt.

Und viertens sollten zivilgesellschaftliche Organisationen im Süden und NGOs stärker unterstützt werden, um Armutsbekämpfung, Menschenrechte und Klimakrise auf der politischen Agenda zu halten.

Ein Altmeister der Entwicklungspolitik

Jacques Forster hat über Jahrzehnte hinweg theoretisch und praktisch in der Entwicklungspolitik gearbeitet und war lange Zeit Vizepräsident des IKRK. In seiner Trilogie schöpft er aus seinem reichen Erfahrungsschatz. Die drei schmalen Bände bieten einen faszinierenden Einblick in die Denkschulen und Handlungsansätze, die die Nord-Süd-Zusammenarbeit geprägt haben. Der Autor erklärt wegweisende Konzepte und Leitbilder auf einfache Weise und veranschaulicht sie anhand von praxisnahen Beispielen. Die Bücher sind leicht verständlich und didaktisch gut strukturiert, mit kurzen und prägnanten Kapiteln, die auch als Nachschlagewerk genutzt werden können. Darüber hinaus enthalten sie hilfreiche Hinweise auf neuere Erscheinungen. Forsters Werk zeigt eindrucksvoll, dass internationale Solidarität und gute Entwicklungszusammenarbeit auch im 21. Jahrhundert von grosser Bedeutung sind.

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Jacques Forster, Coopération Nord-Sud : la solidarité à l’épreuve. Tome 3. Le monde sous tension, Ed. Alphil, Neuchâtel 2023 (19 CHF). Bereits früher besprochen:Tome 1. L’émergence du tiers monde, 1919–1982, Tome 2 : Le monde en développement, 1982–2019.