Lesetipp

Entwicklungshilfe seit je Interessenpolitik

von René Holenstein* | März 2022
In einer neuen Publikation lässt der emeritierte Professor Jacques Forster die wichtigen Etappen der Geschichte der Nord-Süd-Beziehungen Revue passieren. Sie vermittelt spannendes Hintergrundwissen und liefert aktuelle Orientierungshilfen für alle, die sich für Entwicklungspolitik interessieren.

Bis heute wirft die Entwicklungspolitik zahlreiche ungelöste Fragen auf und beschäftigt nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften. Nun legt Jacques Forster, der lange Jahre am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf (IHEID) unterrichtete, die ersten zwei Bände einer geplanten Trilogie zu den Nord-Süd-Beziehungen vor. Darin verbindet er auf gelungene Weise sein fundiertes theoretisches Wissen als ehemaliger Professor mit den praktischen Erfahrungen, die er als früherer Deza-Mitarbeiter und Vizepräsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1999–2007) gesammelt hat.

In seiner leicht lesbaren Publikation blickt Jacques Forster auf die hundertjährige Geschichte der Entwicklungspolitik zurück. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist diese zu einem bedeutenden Teil der Aussenpolitik vieler Länder geworden. Zwar finden sich Vorläufer des Grundgedankens in der Kolonialpolitik der Weltmächte des 19. Jahrhunderts, doch lässt sich der Beginn der modernen Entwicklungspolitik auf die Nachkriegszeit datieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg weiteten Hilfsorganisationen, die zunächst in der Wiederaufbauhilfe in Europa tätig waren, ihre Tätigkeit auf die Länder der Dritten Welt aus. 1961 wurde der Dienst für technische Zusammenarbeit (DftZ, heute Deza) gegründet.

Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe wurden, so führt der Autor aus, von den Staaten grundsätzlich zur Sicherung ihrer aussenpolitischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Interessen eingesetzt. So spielte die Blockbildung bis 1989 eine wichtige Rolle bei der Vergabe der Hilfe. Gleichzeitig zielte diese auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen vor Ort. Dieser Doppelcharakter staatlicher Entwicklungspolitik – Eigeninteressen einerseits, Solidarität und Humanität anderseits – stellt laut Jacques Forster ein Spannungsfeld dar, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Süden meist aussen vor blieben. Zudem liegt den Nord-Süd-Beziehungen eine Asymmetrie zugrunde, was zur Folge hatte, dass es den Entwicklungsländern nur im Ausnahmefall gelang, die Agenda zu beeinflussen. Als ein Beispiel erwähnt der Autor die 1974 von der Uno verabschiedete Neue Weltwirtschaftsordnung, die eine fairere Verteilung der Güter und Reichtümer dieser Erde zum Ziel hatte, aber letztlich scheiterte.

Obwohl die offizielle Schweiz nicht das eigentliche Thema der Publikation ist, verweist Jacques Forster auf frühere Bemühungen des Bundes, seine Beziehungen zum Süden auf eine neue Grundlage zu stellen. Das 1993 verabschiedete «Leitbild Nord-Süd» stellte den Versuch dar, über die reine Entwicklungszusammenarbeit hinauszugehen. Es drückte den Willen aus, vermehrt Kohärenz zwischen den verschiedenen Politikbereichen der Schweiz herzustellen – ein Versprechen, das bis heute nicht eingelöst ist. Nach dieser Phase folgten entwicklungspolitische Perioden, die immer wieder aufs Neue proklamierten, Innovationen zur Verbesserung der Entwicklungspolitik gefunden zu haben. Bei genauerer Betrachtung erwiesen sich vermeintliche Innovationen allerdings als äusserst langlebige, oftmals koloniale Entwicklungsansätze.

Machtverhältnisse und Wandel der Hilfskonzepte

Jacques Forster fokussiert vor allem auf Entwicklungskonzepte, Leitlinien und Prämissen, auf Institutionen und nationale bzw. internationale Rahmenbedingungen, und weniger auf die konkrete Wirkungsweise vor Ort. Er zeigt die Wechselwirkungen, die zwischen weltpolitischen Ereignissen, den globalen Machtverhältnissen und dem Wandel der Hilfskonzeptionen bestanden. Dieser Ansatz ist einmalig und grenzt sich von aktuellen Bestrebungen ab, Entwicklungspolitik als Wurmfortsatz von Innenpolitik begreifen. Sehr nützlich sind die Literaturhinweise am Schluss der einzelnen Kapitel, die zum Nachschlagen und weiteren Nachforschungen anregen.

Und wo stehen wir heute? Laut Jacques Forster gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe in nächster Zeit verschwinden. Neue Akteure (China, Türkei u. a.) haben eigene Entwicklungsagenturen aufgebaut, das Aufgabenfeld der internationalen Zusammenarbeit hat sich stark ausgeweitet. Armut, soziale Ungleichheit, Umweltkatastrophen, Klimawandel, Migration, Konflikte und Gewalt bestimmen inzwischen die Agenda. Humanitäre Hilfe umfasst nicht nur unmittelbare Nothilfe, sondern auch Prävention, Wiederaufbau und – immer öfter – Diplomatie. Das macht eine komplementäre, interdependente und nachhaltige Arbeitsweise von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedenspolitik notwendig. Im dritten Band seiner Trilogie, der Ende 2022 erscheint, will der Autor auf aktuelle Trends und Herausforderungen eingehen. Man darf gespannt sein.

Jacques Forster, Coopération Nord-Sud: la solidarité à l’épreuve. Tome 1: L’émergence du tiers monde, 1919–1982; tome 2: Le monde en développement, 1982–2019. Beide Bände erschienen bei Editions Livreo-Alphil, Neuchâtel 2021.

*René Holenstein ist Historiker und Entwicklungsexperte. Er war bis 2020 Schweizer Botschafter in Bangladesh und arbeitete vorher für die DEZA und das EDA u.a. in Burkina Faso, Bosnien-Herzegowina und Kirgistan.