Lesetipp
Verliert die Schweiz die Fähigkeit zu pragmatischer Erneuerung?
von Rudolf Wyder
| Dezember 2016
Was die Schweiz zusammenhält, bestimmt auch ihre Handlungsfähigkeit in den Aussenbeziehungen. Michael Hermanns Essays lassen tief blicken.
«Es ist ein mehrschichtiges, feinstoffliches Gewebe, das die Schweiz zusammenhält», konstatiert der Politgeograph Michael Hermann zu Beginn seines facettenreichen, luziden Buches. «Was die Schweiz zusammenhält» ist nicht eine lineare Abhandlung, sondern vereinigt auf 200 Seiten vier lose verbundene, durchwegs lesenswerte «Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümlichen Landes».
Charakteristisch für die Schweiz ist auf den ersten Blick die Vielzahl der Trennlinien: zwischen Sprachen und Dialekten, Konfessionen, Gross- und Kleinstkantonen, Stadt und Dorf, Zentrum und Peripherie, Spitzentechnologie und Landwirtschaft, lokalen Sitten und Gebräuchen, zwischen selbstverständlicher Teilhabe an der Globalisierung und Rückzug ins Réduit. Anders als etwa im Falle Belgiens sind jedoch die Grenzen beziehungsweise Bruchstellen nicht kongruent, sondern überlagern sich in stets wechselnder Konfiguration. Daraus resultiert ein Geflecht, das insgesamt eine in Anbetracht der Vielfalt des Trennenden verblüffende Stabilität gewährleistet.
Es ist kein spezifisch aussenpolitisches Buch, das Hermann hier vorlegt. Aber sein Mosaik kluger Beobachtungen ist aussenpolitisch hochrelevant. Träf etwa seine Analyse des oft übersteigerten Bedürfnisses nach Anerkennung, das bei Druckversuchen von aussen – betreffe es die Rolle der Schweiz im Krieg, den Bankenplatz, das Steuersystem – leicht in Empörung mündet, dann aber rasch dem Harmoniebedürfnis weicht.
Und wer denkt bei der folgenden Beobachtung nicht an aktuelle europapolitische Querlagen: «Die Initiativdemokratie hat zur Folge, dass jede Sorge und seelische Verstimmung der Bürgerinnen und Bürger jeweils isoliert sehr ernst genommen, von allen Seiten beleuchtet und ausdiskutiert wird. Die urdemokratische Fähigkeit, die Vielzahl der Anforderungen und Bedürfnisse zu pragmatischen Kompromissen zu bündeln, droht dabei jedoch verloren zu gehen.» Ja, Hermann wird noch deutlicher: «Die Schweiz ist daran, ihre Fähigkeit zu pragmatischer Erneuerung zu verlieren.»
Anders als Tell, Rütli und Morgarten kenne kein Kind die unglaublich spannende Geschichte unserer eigentlichen Gründerväter, konstatiert Hermann an anderer Stelle. «Die radikalen Revolutionäre schafften 1848 eine neue Nation und sie gestalteten eine moderne Demokratie, während rundherum die liberalen Aufstände kläglich scheiterten.» In der Unkenntnis der für unser heutiges Staatswesen relevanten Geschichte sieht Hermann, zweifellos zu Recht, eine der Ursachen verbreiteter Verständnislosigkeit gegenüber der europäischen Integration.
Michael Hermann, Was die Schweiz zusammenhält, Vier Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümliches Landes, Zytglogge-Verlag, Bern 2016, CHF/€ 29.00. ISBN 978-3-7296-0918-1.
«Es ist ein mehrschichtiges, feinstoffliches Gewebe, das die Schweiz zusammenhält», konstatiert der Politgeograph Michael Hermann zu Beginn seines facettenreichen, luziden Buches. «Was die Schweiz zusammenhält» ist nicht eine lineare Abhandlung, sondern vereinigt auf 200 Seiten vier lose verbundene, durchwegs lesenswerte «Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümlichen Landes».
Charakteristisch für die Schweiz ist auf den ersten Blick die Vielzahl der Trennlinien: zwischen Sprachen und Dialekten, Konfessionen, Gross- und Kleinstkantonen, Stadt und Dorf, Zentrum und Peripherie, Spitzentechnologie und Landwirtschaft, lokalen Sitten und Gebräuchen, zwischen selbstverständlicher Teilhabe an der Globalisierung und Rückzug ins Réduit. Anders als etwa im Falle Belgiens sind jedoch die Grenzen beziehungsweise Bruchstellen nicht kongruent, sondern überlagern sich in stets wechselnder Konfiguration. Daraus resultiert ein Geflecht, das insgesamt eine in Anbetracht der Vielfalt des Trennenden verblüffende Stabilität gewährleistet.
Es ist kein spezifisch aussenpolitisches Buch, das Hermann hier vorlegt. Aber sein Mosaik kluger Beobachtungen ist aussenpolitisch hochrelevant. Träf etwa seine Analyse des oft übersteigerten Bedürfnisses nach Anerkennung, das bei Druckversuchen von aussen – betreffe es die Rolle der Schweiz im Krieg, den Bankenplatz, das Steuersystem – leicht in Empörung mündet, dann aber rasch dem Harmoniebedürfnis weicht.
Und wer denkt bei der folgenden Beobachtung nicht an aktuelle europapolitische Querlagen: «Die Initiativdemokratie hat zur Folge, dass jede Sorge und seelische Verstimmung der Bürgerinnen und Bürger jeweils isoliert sehr ernst genommen, von allen Seiten beleuchtet und ausdiskutiert wird. Die urdemokratische Fähigkeit, die Vielzahl der Anforderungen und Bedürfnisse zu pragmatischen Kompromissen zu bündeln, droht dabei jedoch verloren zu gehen.» Ja, Hermann wird noch deutlicher: «Die Schweiz ist daran, ihre Fähigkeit zu pragmatischer Erneuerung zu verlieren.»
Anders als Tell, Rütli und Morgarten kenne kein Kind die unglaublich spannende Geschichte unserer eigentlichen Gründerväter, konstatiert Hermann an anderer Stelle. «Die radikalen Revolutionäre schafften 1848 eine neue Nation und sie gestalteten eine moderne Demokratie, während rundherum die liberalen Aufstände kläglich scheiterten.» In der Unkenntnis der für unser heutiges Staatswesen relevanten Geschichte sieht Hermann, zweifellos zu Recht, eine der Ursachen verbreiteter Verständnislosigkeit gegenüber der europäischen Integration.
Michael Hermann, Was die Schweiz zusammenhält, Vier Essays zu Politik und Gesellschaft eines eigentümliches Landes, Zytglogge-Verlag, Bern 2016, CHF/€ 29.00. ISBN 978-3-7296-0918-1.
Kolumne
Aussenpolitische Zeitenwende
von Martin Fässler* | Februar 2023
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat den Begriff „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres 2022 gekürt. Die Aussenpolitik der Schweiz ist gefordert, Zukunftsperspektiven in einem turbulenten Umfeld zu skizzieren. Hierzu haben Bundesrat und Parlament in 2023 / 24 gebührend Gelegenheit.
Kolumne
«Land wieder an die Urne» oder wie wir besser Brücken bauen statt Gräben graben
von Christine Badertscher* | Januar 2023
Sie waren in den letzten Monaten kaum zu übersehen, in den ländlichen Gemeinden hingen sie überall: Die grünen Fahnen, mit dem Aufruf «Land wieder an die Urne». Sie suggerieren ein «wir (vom Land) gegen die Stadtbevölkerung». Die Fahnen stehen exemplarisch für eine Tendenz, die ich leider in den vergangenen Jahren verstärkt feststellen musste: Eine Spaltung der Gesellschaft wird herbeigeredet und verfängt sich in den Köpfen der Bevölkerung. (Meinungs)unterschiede zwischen der Stadt- und Landbevölkerung stelle ich tatsächlich fest, aber hier wird ein inszenierter Kulturkampf heraufbeschworen, es wird auf einem bestehenden Riss herumgehackt, statt den Graben zu zuschütten.