Lesetipp
Volksinitiative und «Rule of Law»
von
Christoph Wehrli
| März 2016
Wie lassen sich Konflikte zwischen schweizerischen Volksentscheiden und Völkerrecht lösen oder vermeiden? Ein Bändchen mit Diskussionsbeiträgen erstellt eine Art Auslegeordnung von Reformvorschlägen und deren problematischen Seiten.
Die «Flut» von Volksbegehren und speziell eine gewisse Häufung erfolgreicher Initiativen auf eidgenössischer Ebene sind weniger in quantitativer als in qualitativer Hinsicht ein Problem. Denn immer wieder stehen solche Vorstösse für Verfassungsrevisionen in einem Widerspruch zu Menschenrechten und Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, die einerseits durch die Bundesverfassung, anderseits durch Völkerrecht gewährleistet sind. Demnach wird durch Annahme solcher Initiativen nicht nur die Stabilität der innerstaatlichen Werteordnung, in der sich Demokratie und Menschenrechte gegenseitig bedingen, sondern auch die Vertragstreue der Schweiz infrage gestellt. In der Folge haben Politiker und Staatsrechtler Abhilfemassnahmen postuliert – und Opposition liess nicht auf sich warten. Der Basler Historiker Georg Kreis lässt nun in einer Publikation sieben Verfechter unterschiedlicher Konzeptionen zu Wort kommen und vermittelt dadurch einen Überblick über das Problem und die Anregungen für mögliche Lösungen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die aussenpolitisch relevanten Aspekte dieser Debatte.
Als einzigartiges Instrument der direkten Demokratie ist die Volksinitiative an sich unangefochten, diene sie nun als politischer «Fiebermesser» oder als Mittel der «Bürgermacht» (Andreas Gross). Dass sie «schöpferische Impulse» gibt, attestiert ihr auch Daniel Thürer, doch sieht er eine Tendenz des «Durchschnittsbürgers» zu introvertiertem Denken, also einen mangelnden Sinn für das Völkerrecht, das sich über die einzelnen Verträge hinaus zu einer internationalen «Rule of Law» oder Rechtsstaatlichkeit entwickelt hat. Wie ist nun im Fall von Konflikten der beiden je nicht absoluten Rechtssphären eine «praktische Konkordanz» herzustellen?
Nach Andreas Auer erübrigt sich eine neue Verfassungsregelung. Denn ohnehin sei auch das Volk («wer staatliche Aufgaben wahrnimmt», BV 35) an die Grundrechte sowie an die Menschenrechtsübereinkommen gebunden. Ob eine gutgeheissene Initiative diesen Verpflichtungen entspreche, hätten bei der Anwendung der neuen Norm die Gerichte zu beurteilen; bei ihrer Abwägung müssten und könnten sie auch die Wertung des Verfassungsgebers berücksichtigen, der Grundrechte unter bestimmten Bedingungen einschränken, nicht aber verletzen darf. - Die Einwände liegen auf der Hand: Die Nichtanwendung von Bestimmungen der Verfassung schwächt deren Legitimation und schafft politischen Unmut. Ausserdem hatte beispielsweise die Durchsetzungsinitiative ausdrücklich ihren eigenen Vorrang vor dem Völkerrecht verlangt.
Mehrere Autoren suchen daher einen Ausweg darin, dass die Gründe, eine Initiative für ungültig zu erklären, erweitert würden, wobei sich der konkrete Entscheid des Parlaments neu jeweils beim Bundesgericht anfechten liesse. Giusep Nay findet, es seien jene Volksbegehren nicht zur Abstimmung zu bringen, die sich «offensichtlich» nicht umsetzen liessen, weil sie mit den Grundrechten und den Prinzipien des Rechtsstaats nicht vereinbar sind. Für eine solche Neuerung die Verfassung zu revidieren, hält der frühere Bundesgerichtspräsident nicht unbedingt für nötig, da er die geforderte Praxisänderung aus der Garantie der unverfälschten Stimmabgabe ableitet. Zumindest politisch dürfte es aber unumgänglich sein, Volk und Stände entscheiden zu lassen. Als eine Variante schlägt Daniel Thürer vor, den Entscheid über die Gültigkeit einer Initiative vor den Beginn der Unterschriftensammlung zu verlagern.
Astrid Epiney weist darauf hin, dass mit zusätzlichen rechtsstaatlichen Anforderungen an Initiativen neue kontroverse Auslegungsfragen entstünden und ohnehin das Problem von Konflikten mit «gewöhnlichem» Völkerrecht (etwa dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU) ungelöst bliebe. Sie favorisiert eine radikalere Option, wonach Initiativen nur noch in der bisher selten benützten Form der allgemeinen Anregung zulässig wären und das Parlament so bei der Konkretisierung auf rechtsstaatliche Grundsätze und Völkerrecht Rücksicht nehmen könnte. Eine solche Einschränkung des populären Volksrechts träfe indes, wie Andreas Gross schreibt, dessen «machtpolitischen Kern», zumal die Initianten bezüglich ihres Anliegens meist gerade kein Vertrauen zum Parlament hätten.
Angesichts der Schwierigkeit einer konsensfähigen Reform scheint es besonders wichtig, nicht nur die rechtlichen Mechanismen anzusehen. Spielt namentlich eine grosse Regierungspartei mit dem «Volksabsolutismus» (Thürer) oder mit der «Tyrannei der Bürger über Nichtbürger» und treten ihr die anderen Parteien dabei nicht energisch entgegen, so liegen die Probleme – aber auch Handlungsmöglichkeiten - beim Zustand der politischen Kultur.
Georg Kreis (Hg.): Reformbedürftige Volksinitiative. Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2016. 156 S., Fr. 22.-.
Die «Flut» von Volksbegehren und speziell eine gewisse Häufung erfolgreicher Initiativen auf eidgenössischer Ebene sind weniger in quantitativer als in qualitativer Hinsicht ein Problem. Denn immer wieder stehen solche Vorstösse für Verfassungsrevisionen in einem Widerspruch zu Menschenrechten und Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, die einerseits durch die Bundesverfassung, anderseits durch Völkerrecht gewährleistet sind. Demnach wird durch Annahme solcher Initiativen nicht nur die Stabilität der innerstaatlichen Werteordnung, in der sich Demokratie und Menschenrechte gegenseitig bedingen, sondern auch die Vertragstreue der Schweiz infrage gestellt. In der Folge haben Politiker und Staatsrechtler Abhilfemassnahmen postuliert – und Opposition liess nicht auf sich warten. Der Basler Historiker Georg Kreis lässt nun in einer Publikation sieben Verfechter unterschiedlicher Konzeptionen zu Wort kommen und vermittelt dadurch einen Überblick über das Problem und die Anregungen für mögliche Lösungen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die aussenpolitisch relevanten Aspekte dieser Debatte.
Als einzigartiges Instrument der direkten Demokratie ist die Volksinitiative an sich unangefochten, diene sie nun als politischer «Fiebermesser» oder als Mittel der «Bürgermacht» (Andreas Gross). Dass sie «schöpferische Impulse» gibt, attestiert ihr auch Daniel Thürer, doch sieht er eine Tendenz des «Durchschnittsbürgers» zu introvertiertem Denken, also einen mangelnden Sinn für das Völkerrecht, das sich über die einzelnen Verträge hinaus zu einer internationalen «Rule of Law» oder Rechtsstaatlichkeit entwickelt hat. Wie ist nun im Fall von Konflikten der beiden je nicht absoluten Rechtssphären eine «praktische Konkordanz» herzustellen?
Nach Andreas Auer erübrigt sich eine neue Verfassungsregelung. Denn ohnehin sei auch das Volk («wer staatliche Aufgaben wahrnimmt», BV 35) an die Grundrechte sowie an die Menschenrechtsübereinkommen gebunden. Ob eine gutgeheissene Initiative diesen Verpflichtungen entspreche, hätten bei der Anwendung der neuen Norm die Gerichte zu beurteilen; bei ihrer Abwägung müssten und könnten sie auch die Wertung des Verfassungsgebers berücksichtigen, der Grundrechte unter bestimmten Bedingungen einschränken, nicht aber verletzen darf. - Die Einwände liegen auf der Hand: Die Nichtanwendung von Bestimmungen der Verfassung schwächt deren Legitimation und schafft politischen Unmut. Ausserdem hatte beispielsweise die Durchsetzungsinitiative ausdrücklich ihren eigenen Vorrang vor dem Völkerrecht verlangt.
Mehrere Autoren suchen daher einen Ausweg darin, dass die Gründe, eine Initiative für ungültig zu erklären, erweitert würden, wobei sich der konkrete Entscheid des Parlaments neu jeweils beim Bundesgericht anfechten liesse. Giusep Nay findet, es seien jene Volksbegehren nicht zur Abstimmung zu bringen, die sich «offensichtlich» nicht umsetzen liessen, weil sie mit den Grundrechten und den Prinzipien des Rechtsstaats nicht vereinbar sind. Für eine solche Neuerung die Verfassung zu revidieren, hält der frühere Bundesgerichtspräsident nicht unbedingt für nötig, da er die geforderte Praxisänderung aus der Garantie der unverfälschten Stimmabgabe ableitet. Zumindest politisch dürfte es aber unumgänglich sein, Volk und Stände entscheiden zu lassen. Als eine Variante schlägt Daniel Thürer vor, den Entscheid über die Gültigkeit einer Initiative vor den Beginn der Unterschriftensammlung zu verlagern.
Astrid Epiney weist darauf hin, dass mit zusätzlichen rechtsstaatlichen Anforderungen an Initiativen neue kontroverse Auslegungsfragen entstünden und ohnehin das Problem von Konflikten mit «gewöhnlichem» Völkerrecht (etwa dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU) ungelöst bliebe. Sie favorisiert eine radikalere Option, wonach Initiativen nur noch in der bisher selten benützten Form der allgemeinen Anregung zulässig wären und das Parlament so bei der Konkretisierung auf rechtsstaatliche Grundsätze und Völkerrecht Rücksicht nehmen könnte. Eine solche Einschränkung des populären Volksrechts träfe indes, wie Andreas Gross schreibt, dessen «machtpolitischen Kern», zumal die Initianten bezüglich ihres Anliegens meist gerade kein Vertrauen zum Parlament hätten.
Angesichts der Schwierigkeit einer konsensfähigen Reform scheint es besonders wichtig, nicht nur die rechtlichen Mechanismen anzusehen. Spielt namentlich eine grosse Regierungspartei mit dem «Volksabsolutismus» (Thürer) oder mit der «Tyrannei der Bürger über Nichtbürger» und treten ihr die anderen Parteien dabei nicht energisch entgegen, so liegen die Probleme – aber auch Handlungsmöglichkeiten - beim Zustand der politischen Kultur.
Georg Kreis (Hg.): Reformbedürftige Volksinitiative. Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2016. 156 S., Fr. 22.-.
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