Lesetipp

«Diplomatie» – zum Handbuch von Paul Widmer

von a. Botschafter Benedikt von Tscharner | Juli 2014
Eine kritische Anmerkung vorweg: Das zu Beginn dieses Jahres im Verlag Neue Zürcher Zeitung erschienene Buch aus der Feder von Botschafter Dr. Paul Widmer zeigt auf seiner Umschlagseite eine Diplomatenuniform – ohne Kopf und Gesicht… Nun, goldbestickte Uniformen, Zweispitz und weisse Handschuhe tragen unsere Diplomaten selbst bei den allerfeierlichsten Anlässen seit Jahrzehnten nicht mehr, und höfisches Zeremoniell passte ja eigentlich gar nie zur letztlich doch recht biederen Schweizer Diplomatie. Weshalb also diese Uniform? Nostalgie? Ironie? Scheu vor allzu banal wirkenden Aufnahmen von Sitzungen und Händeschütteln?

Und um noch ein wenig zu kritisieren: Ein zweites Bild findet sich, gleich zweimal, auf den Innenseiten des Einbands. Es stellt die Zeremonie der Erneuerung des Bündnisses zwischen den Eidgenössischen Orten und König Ludwig XIV. am 18. November 1663 in der Kathedrale von Notre-Dame in Paris dar, einen grossen Wandteppich aus der königlichen Gobelin-Manufaktur. Ein Exemplar befindet sich im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich, ein weiteres als Depot des Mobilier national im grossen Salon des Hôtel Besenval, der Residenz des schweizerischen Botschafters in Paris. Was hat wen bewogen, dieses elegante, in satten Farben gehaltene, historisch äusserst interessante Werk hier in dieser dunkelblau-grauen «Verdüsterung» abzubilden?

Sei dem, wie es wolle: Was bietet das Buch?

Um es mit einem Slogan zu sagen: Wir haben es mit einem klassischen Lehrbuch der klassischen Diplomatie zu tun; klar, reichhaltig, aktuell. Der Text fusst auf Vorlesungen, die Botschafter Widmer seit 2011 an der Universität Sankt Gallen hält. Seine Studenten sind nur zum Teil künftige Diplomaten, sondern auch künftige Manager, Journalisten usf. Der Leser, ob Diplomat oder nicht, kann hier viel Wissenswertes über die Arbeit einer diplomatischen Vertretung erfahren, einschliesslich so zeitgenössische Phänomene wie public diplomacy oder e-diplomacy, jedoch nur indirekt etwas über die komplexen aktuellen Probleme des internationalen Lebens; das ist ein anderes Thema: «Diplomacy is about the how, not the what!»

In einem muss man dem Autoren mit Nachdruck recht geben: Staatensystem und Diplomatie verändern sich zwar seit Anbeginn laufend, mitunter tiefgreifend; doch die Diplomatie als
Instrument und als Herausforderung lebt fort und wird auch in Zukunft unersetzlich sein. Die – nach wie vor grundsätzlich souveränen – Staaten stehen untereinander in Verbindung, verkehren miteinander und kooperieren, schaffen Völkerrecht, gründen und betreiben internationale Institutionen, versuchen ihre Konflikte zunächst mit den Mitteln der Diplomatie zu bewältigen. Damit wird die machtpolitische Komponente der internationalen Beziehungen keineswegs ausgeblendet. Auch die Globalisierung verkörpert nicht das Ende der Diplomatie, sondern umschreibt den umfassenden Anspruch, den die Völker an sie stellen.

Paul Widmer kann zudem beigepflichtet werden, wenn er die Diplomatie nicht als Wissenschaft bezeichnen mag; er siedelt sie irgendwo zwischen dem Handwerk und der Kunst an, unterstreicht dabei gleichzeitig die hohen Ansprüche, die an das Wissen der Diplomaten über heutige und vergangene Fakten und Zusammenhänge einerseits, an deren Talent, Erfahrung und Engagement anderseits zu stellen sind. Diplomatie, ein notwendiger Beruf, ein schwieriger Beruf, ein schöner Beruf !

Widmer sagt in seiner Einleitung, die Diplomatie sei breiter, nicht tiefer geworden; er spielt da u.a. auf die im Vergleich mit früheren Zeiten verminderte Eigenständigkeit der im Ausland akkreditierten Botschafter und auch auf die seltenere Ausübung der diplomatischen Vollmachten in Verhandlungen und Vertragsabschlüssen an; in der Tat, der ambassadeur extraordinaire et plénipotentiaire ist heutzutage meist weder das eine noch das andere... Minister sind fast ständig auf Reisen und wollen bei stark mediatisierten Abschlüssen selber die Signatarfeder führen. Die für die Aussenpolitik Verantwortlichen hindert das indessen in keiner Weise, Botschafter sinnvoll einzusetzen, sie beispielsweise am Prozess der analytischen Vertiefung und der Meinungsbildung in der Zentrale teilhaben zu lassen. Es hat in jüngerer Zeit Bundesräte und Staatssekretäre gegeben, die in schwierigen Fragen systematisch ihre im Ausland stationierten Diplomaten konsultiert haben; nicht alle Chefs allerdings erkannten dieses Potential ihres eigenen Apparats…

Besonders interessant ist, was Paul Widmer zur sogenannten Drittparteiendiplomatie zu sagen hat. Er – oder der Schöpfer dieses Begriffs – versteht darunter diplomatische Einsätze zur Milderung oder zur Lösung von Konflikten unter Drittstaaten; der üblichere Ausdruck Friedenspolitik nimmt in der Tat vorweg, was sich oft als unerreichbares Fernziel erweist. Die Instrumente sind: Gastgeberrolle für internationale Treffen und Konferenzen, Konfliktvorbeugung, Gute Dienste, Vermittlung, Streitschlichtung, Schiedsgerichtsbarkeit, internationale Justiz, Friedenssicherung mittels Blauhelmen, Wiederaufbau, Konsolidierung von Gouvernanz und Demokratie, Ausbildungsgänge usf. Gerade aus schweizerischer Sicht lässt sich viel Interessantes über diesen jüngsten, medialen Zweig der Diplomatie sagen, auch wenn in kommenden Jahren gerade hier wohl noch manch neue Erfahrung zu machen sein wird.

Der Autor des Handbuchs geht mit Begriffen sorgfältig um und trennt, wie schon erwähnt, Diplomatie als Methode und als Instrument von den internationalen Beziehungen als Aktionsbereich des Staates. Der eine oder andere Leser, der den aussenpolitischen Alltag des Landes verfolgt, mag da schliesslich doch etwas die Substanz vermissen. Was er sieht und verstehen möchte, sind beispielsweise Verhandlungen über Klimawandel, cyber war, Migration, Abrüstung, Menschenrechte, Verhandlungen auch über Landerechte, Funkfrequenzen, Epidemien, Geldwäsche, Nachlassbesteuerung, Austausch elektrischer Energie, Rechtshilfe, Patentschutz – alles Dossiers, für welche in Bern nicht das Departement für Auswärtiges die Federführung innehat, alles bloss «technische» Dossiers somit, der Diplomatie nicht eigentlich würdig? Nein, das wäre ein Missverständnis. Manch ein hoher Beamter in einem sachpolitisch zuständigen eidgenössischen Departement ist eben auch Diplomat und manch einer trägt auch einen entsprechenden Titel, der ihm bei seinen Missionen im Ausland behilflich sein mag; er will und darf sich als Diplomat fühlen, er bedient sich diplomatischer Methoden und des diplomatischen Vertretungsnetzes. Was allerdings nicht in allen Fällen klappt, ist der Einbau all dieser komplexen Dossiers und Prozesse in eine kohärente und sorgfältig koordinierte Aussenpolitik des Bundesrats, nicht eines einzelnen Bundesamts oder Staatssekretariats; doch das lässt sich wohl nicht aus einem Handbuch lernen; die Gebrauchsanweisung eines Musikinstruments ist noch keine Partitur.